Die EU vor der Zeitenwende?
Die Zahlen über die wirtschaftliche Entwicklung der Europäischen Union (EU) lassen die Alarmglocken klingeln. Jahrelang war die europäische Wirtschaft ungefähr so stark wie die amerikanische. Doch seit dem Jahr 2011 driften die beiden Wirtschaften auseinander, zuerst langsam, jetzt immer schneller. Nach den Voraussagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird das Bruttoinlandsprodukt der USA schon 2025 um fast 50 Prozent über dem der EU liegen.
Überraschend ist diese Entwicklung nicht. Die EU-Kommission hat sich unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen für die wirtschaftliche Entwicklung der EU kaum interessiert. Fragen wie die Stärkung der Industrie, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Sicherung des Wohlstands waren für die Kommission zweitranging. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Regulierungsfragen und den Green Deal, also den mit Schulden finanzierten Plan, Europa mit staatlichem Zwang zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt umzuwandeln.
Die Ergebnisse dieser europäischen Politik sind verheerend: Wirtschaft und Industrie ersticken unter Überregulierung und Bürokratie; die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit leidet unter hohen Energiepreisen; eine restriktive Handelspolitik gefährdet die Versorgung mit notwendigen Rohstoffen; die notwendige Vollendung des gemeinsamen Binnenmarkts ist versandet. Die wirtschaftliche Stagnation in der EU ist also hausgemacht.
Demgegenüber unterstützen die Hauptkonkurrenten USA und China ihre Wirtschaft mit gigantischen Summen, um sie innovativer, produktiver und wettbewerbsfähiger zu machen. Gleichzeitig sind dort die bürokratischen Lasten geringer, die Energiepreise und Lohnkosten niedriger und die Binnenmärkte durchlässig. So erklärt sich die wirtschaftliche Dynamik in den USA und China und die Vorliebe europäischer Unternehmen, vorrangig dort zu investieren.
Die EU steht deshalb vor einer wirtschaftspolitischen Zeitenwende: Statt der erste klimaneutrale Kontinent sein zu wollen, müssen die wirtschaftlichen Kräfte in Europa gestärkt werden, um den weiteren Abstieg zu bremsen und den Wohlstand zu sichern. Dazu soll das für Mitte April 2024 erstmals anberaumte Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel dienen, zu dem EU-Ratspräsident Charles Michel eingeladen hatte. „Wir brauchen auch einen Deal für die Wettbewerbsfähigkeit“, sagte Charles Michel. „Es ist wichtig, dass wir den Binnenmarkt stärken. Er muss zum innovativsten, fortschrittlichsten und grünsten Kraftzentrum der Welt werden. Unser Wohlstand, unsere Macht und unsere Autonomie leiten sich davon ab.“
Jacques Delors
Den Binnenmarkt stärken – was bedeutet das konkret? Die Grundidee des Binnenmarktes stammt aus den Römischen Verträgen, die am 1. Januar 1958 in Kraft traten: Zölle im Warenverkehr, aber auch andere Hemmnisse wie unterschiedliche Standards und Regeln beeinträchtigen den Handel zwischen den europäischen Ländern. Wenn sie beseitigt werden, sorgt das für günstige Güterpreise, aber auch für mehr Wettbewerb über Ländergrenzen hinweg und dadurch für mehr Produktivität, kurzum für mehr Wohlstand.
Das konkrete Vorbild für ein solches Wachstumsprogramm verdankt die EU Jacques Delors, dem EU-Kommissionspräsidenten von 1985 bis 1995. Auf seine Initiative hin erarbeitete die EU-Kommission die sog. Binnenmarkt-Fibel, in der 282 Vorschläge enthalten waren, die Delors für die Verwirklichung des Binnenmarktes als notwendig ansah. Bis 1992 war der größte Teil dieser Kommissionsvorschläge verabschiedet und auf europäischer und nationaler Ebene umgesetzt.
Die positiven Auswirkungen dieser angebotspolitischen Maßnahmen zeigten sich schon in den Jahren 1988/1989, als die Wirtschaft in den europäischen Industrieländern einen unerwarteten Aufschwung erlebte. Deutschland erreichte mit 3,4 Prozent eine Wachstumsrate wie seit dem Ende der siebziger Jahre nicht mehr. Trotz aufgewerteter D-Mark erhöhten sich die Ausfuhren um 7,5 Prozent. Die Inflation betrug 1,3 Prozent, und die Beschäftigung nahm zu.
Die Binnenmarktpolitik von Delors lässt sich heute nicht wiederholen, weil das Meiste schon umgesetzt ist. Charles Michel denkt deshalb vor allem an die Vollendung der Kapitalmarktunion, die weiterhin offen ist. Europa, meint er, investiere zu wenig in die Technologien der Zukunft, zum Beispiel in Elektroautobatterien und künstliche Intelligenz. Auch die Förderung von Start-ups seien in Europa unterentwickelt. „Um mehr Geld zu mobilisieren, müssen wir endlich eine Kapitalmarktunion schaffen“, sagt Michel.
Enrico Letta/Charles Michel
Der ehemalige italienische Ministerpräsiden Enrico Letta hat hierzu im Auftrag des EU-Rates einen "Bericht zur Zukunft des Binnenmarkts" erstellt, in dem er vor allem für eine aktive Industriepolitik und eine starke europäische Finanzierung wirbt. Letta begründet das mit drei Zielen: die grüne und digitale Wende, die Erweiterung der EU und die Sicherheitspolitik. Allein zur Finanzierung der Investitionen des "Green Deal" seien jährlich 620 Milliarden Euro notwendig. Am 17. April 2024 hat Letta seinen Bericht den Staats- und Regierungschefs präsentiert. Er dürfte für Streit sorgen.
Letta will zur Finanzierung dieser "erheblichen Kosten" die Kapitalmarktunion vorantreiben. Die EU sitze auf 33 Billionen Euro an privaten Ersparnissen, von denen 34 Prozent auf Girokonten lägen. "Dieser Reichtum wird nicht in vollem Umfang genutzt, um strategische Bedürfnisse voranzubringen", heißt es in dem Bericht. Besorgniserregend sei, dass viel europäisches Geld nach Amerika abfließe und dort die Wirtschaft stärke.
Richtig ist, dass es bei der Kapitalmarktunion seit Jahren aus verschiedenen Gründen nicht vorangeht. Alle sprechen über das Vorhaben, aber niemand kann präzise beschreiben, was das für die Mitgliedstaaten konkret bedeutet. Deshalb fürchten sich viele EU-Staaten davor und wollen keine Kompetenzen abgeben. Zudem ist fraglich, welchen Einfluss ein besserer Fluss von Kapital auf das Wirtschaftswachstum hat. Denn produktive und zukunftsfähige Unternehmen haben kaum Probleme, sich auf den Kapitalmärkten zu finanzieren.
Vor allem kurzfristig dürften die Vorschläge zur Kapitalmarktunion keinen größeren Beitrag zur Belebung der europäischen Binnenmarktes leisten. Charles Michel brachte deshalb "Eurobonds" und eine stärkere Rolle der Europäischen Investitionsbank ins Spiel. Letta verzichtete in seinem Bericht zwar auf solche heiklen Forderungen. "Langfristig wird aber kein Weg daran vorbeiführen, die politischen Divergenzen über eine gemeinsame EU-Finanzierung anzugehen", schreibt er vielsagend in seinem Bericht.
Letta stellt sich in seinem Bericht in eine Reihe mit Jacques Delors, der 1992 den Binnenmarkt vollendete. Das zeugt von leichtem Größenwahn, weil Lettas Vorschläge zur Kapitalmarktunion schon von der Größe und der Wirkung mit Delors Werk nicht zu vergleichen sind. Delors Strategie war so erfolgreich, weil sie generell auf die Mobilisierung der Marktkräfte abzielte. Lettas Vorschlägen fehlt die dafür erforderliche Breitenwirkung, weil die Investitionsanreize in Form von Finanzhilfen nur selektiv wirken.
Das bessere Mittel, um Wirtschaftswachstum in der Breite zu fördern, ist der Bürokratieabbau, den Charles Michel ebenfalls empfiehlt: „Die Kommission erlässt zu viele Vorschriften und belastet so die Wirtschaft“, sagt er. Dabei liegen die Nachteile auf der Hand: Die bürokratische Überregulierung verkürzt den unternehmerischen Freiraum, bindet in den Unternehmen persönliche und sachliche Kapazitäten und reduziert dadurch Investitionen.
Nach Jahren des intensiven Regulierens - infolge des Green Deal, der Lieferkettenrichtlinie oder Nachhaltigkeitsberichterstattung etc. - scheint die EU jetzt umzuschwenken. Unter den EU-Spitzenpolitiker mehren sich die Stimmen, die belastende Auflagen für die Wirtschaft wieder abschaffen wollen. Bürokratieabbau bedeutet aber für die Organe der EU, sich selbst zu korrigieren und dicke Bretter bohren zu müssen. So ist die Gefahr groß, dass die EU-Kommission dem Ruf derer folgt, die im Namen der Wettbewerbsfähigkeit neue Schuldenfonds fordern, um damit Industriepolitik zu betreiben.
von der Leyen/Mario Draghi
Während Letta für den EU-Ratspräsidenten Michel an einem Programm zur Stärkung des europäischen Binnenmarktes arbeitet, hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi damit beauftragt, Empfehlungen für ein "wettbewerbsfähiges Europa" auszuarbeiten. Wie diese Empfehlungen ausfallen werden, verriet Draghi im April 2024 während einer Rede in Belgien.
Europa habe irrtümlich versucht, durch "interne Konkurrenz" mittels Lohnkostensenkungen und einer prozyklischen Fiskalpolitik wettbewerbsfähig zu werden, kritisierte er. Selbst bei lebenswichtigen Sektoren mit gleichgerichteten Interessen wie Energie und Verteidigung "sahen wir uns selbst als Wettbewerber". Um im ruinösen Konkurrenzkampf gegen China und die USA zu überleben, sei in der EU ein "radikaler Wandel" überfällig, mahnte Draghi. Die Europäer müssten ihre Kräft bündeln.
Auf Märkten wie Telekommunikation oder Rüstungsindustrie etwa sollten die Unternehmen von Größenvorteilen profitieren können. Den mindestens 34 verschiedenen Mobilfunknetzwerken in Europa stünden nur drei in den USA und vier in China gegenüber. Dementsprechend investiere Europa je Kopf nur halb so viel in die Telekommunikation wie die die Vereinigten Staaten und liege bei dem 5-G-Standard und der Glasfaserverbreitung zurück. Draghi kritisierte auch, dass nur vier der fünfzig führenden Technologiekonzerne auf der Welt aus Europa kommen.
In der Rüstungsindustrie sieht es laut Draghi ähnlich aus: Während in den USA die fünf größten amerikanischen Anbieter 80 Prozent ihres Marktes abdecken, sind es in Europa nur 45 Prozent. Fast 80 Prozent der militärischen Beschaffung Europas ging in den letzten Jahren an Lieferanten außerhalb Europas, monierte Draghi.
Für kritische Rohstoffe empfahl Draghi, die EU solle über eine einheitliche Plattform die gemeinsame Beschaffung aus unterschiedlichen Quellen sichern. Gemeinschaftliche Finanzierung und Lagerung gehörten zu diesem Konzept. Und wenn nicht alle Staaten in Europa mitmachen wollten, schlug Draghi vor, es sollten sich auch kleinere Gruppen von Mitgliedern zusammenschließen können. Das könne auch für die europäische Kapitalmarktunion gelten.
Draghi ließ in seiner Rede noch viele Fragen offen, etwa die umstrittenen Eurobonds zur Bezahlung der gemeinsamen Aufgaben. Seinen Auftritt in Belgien beendete er mit dem Aufruf, so viel Ehrgeiz zu zeigen, wie es die Gründungsväter vor 70 Jahren bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl taten. Ob er dabei auch selbst eine maßgebliche Rolle spielen will, behielt er vorerst für sich.