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Klima und Energiewende : Klimapolitik - verantworlich für die Krise der Automobilindustrie?
20.01.2024 23:06 (469 x gelesen)

Klimapolitik – verantwortlich für die Krise der Automobilindustrie?

In der Öffentlichkeit ist von grünen Politikern und sog. Autoexperten immer wieder zu hören, dass die deutsche Automobilindustrie den Trend zur E-Mobilität und Digitalisierung verschlafen und ihren Abstieg selbst zu verantworten hat. Dem hat der Ökonom Hans-Werner Sinn in einem Interview mit der Tageszeitung DIE WELT vom 18. Januar 2024 heftig widersprochen:
„Der Begriff ´verschlafen´ passt nicht, weil es sich beim Verbrenner-Aus nicht um eine Marktentwicklung, sondern um einen politischen Oktroi (einseitiger Akt) ging, der nicht vorhersehbar war. Frankreichs Atomlobby und Autoindustrie wollten die E-Autos schon lange, weil man da eine Chance sah, im Wettbewerb mit der deutschen Automobilindustrie wieder nach vorn zu kommen. Man koalierte daher mit den grün gesinnten Kräften der EU und setzte dann EU-weit das Verbrenner-Verbot durch. Der Dieselskandal half damals, die empörten Parlamentarier zur Zustimmung zu bewegen.“
Auf den Hinweis, dass auch die Marktanteile chinesischer Autos steigen, sagte Hans-Werner Sinn: „Auch das war keine Marktentwicklung, sondern eine Entscheidung der chinesischen Führung. China hat jahrzehntelang vergeblich versucht, hochkomplexe Motoren wie die Deutschen zu bauen und ist auch deshalb auf die E-Autos ausgewichen.“
Auf die Frage, welche Auswirkungen das auf die deutsche Industrieentwicklung hat, sagte Hans-Werner Sinn: „Eine sehr schlechte. Der entscheidende Schritt zu einem faktischen Verbrenner-Verbot wurde schon 2018 durch eine drastische Verschärfung der CO2-Grenzwerte für PKW-Flotten getan. Der zugelassene Flottenverbrauch entsprach damals 2,2 Litern Dieseläquivalenten pro 100 km. Die Hersteller wurden gezwungen, E-Autos zu produzieren, weil deren Emissionen in der Formel für den Flottenverbrauch mit dem Wert null berücksichtigt wurden. … Es war dieser faule Trick, der die Krise der Autoindustrie auslöste. Diese Krise strahlt auf die ganze Industrie aus und wird durch die Energiekriese noch verstärkt… Der Keim der Deindustrialisierung ist gelegt.“

Die bekannten Fakten bestätigen die Darstellung von Hans-Werner Sinn.

Merkels EU-Ratspräsidentschaft

Am 1. Januar 2007 übernahm Bundeskanzlerin Angela Merkel für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Aus diesem Anlass hielt sie am 17. Januar 2007 eine vielbeachtete Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Sie bekannte sich zu einem Europa, das sich auf die europäischen Kernaufgaben konzentriert, und versprach, den Abbau überflüssiger Bürokratie als eine ihrer Hauptaufgaben aufzugreifen. Außerdem wollte sie sich im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit Europas für den Abbau von Handelsbarrieren etwa beim Patentrecht oder bei Industriestandards einsetzen.
Tatsächlich konzentrierte sie sich dann jedoch auf das ihr vertraute Thema des Klimaschutzes. Sie kündigte an, Europa zum Vorreiter in Sachen Klimaschutz machen zu wollen: Man könnte dem Klimawandel „nicht tatenlos zusehen“ und es sei „Zeit zu handeln“, sagte sie. Sie warb dafür, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 20 Prozent zu reduzieren. Es müsste der Beweis angetreten werden, "dass Ökonomie und Ökologie versöhnt werden können". Sie ermunterte die EU-Kommission, dazu Ideen und Vorschläge zu entwickeln.
Einen ersten Großversuch auf diesem Weg startete die Europäische Kommission mit der sogenannten „Ökodesign-Richtlinie“, die es der Kommission erlaubte, für eine „unbegrenzte Zahl von Produkten“ Mindestanforderungen für den Energieverbrauch vorzuschreiben. Von dieser Ermächtigung machte die Kommission umfangreich Gebrauch. Betroffen waren nahezu alle energieverbrauchenden Produkte, darunter Kühlschränke, Klimaanlagen, Staubsauger, Fernseher, Straßenbeleuchtungen und PCs. Eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzenanalyse zu diesem Projekt gab es aber nicht.
Außerdem begann die EU-Kommission während der EU-Präsidentschaft von Angela Merkel, den Ausstoß von Kohlendioxyd durch Kraftfahrzeuge im Verordnungswege zu regeln. Das Thema an sich war nicht neu, sondern beschäftigte die Europäische Union bereits seit Mitte der 90er Jahre. Die Autoindustrie kämpfte jedoch aus nachvollziehbaren Gründen gegen einen im Verordnungswege festgesetzten Grenzwert und konnte die Politik zunächst dazu bewegen, stattdessen eine freiwillige Selbstverpflichtung des Verbandes der europäischen Autohersteller (ACEA) zu akzeptieren. So wurden im Umweltministerrat, dem auch Angela Merkel in ihrer Zeit als Umweltministerin angehörte, Zielwerte für den durchschnittlichen CO2-Ausstoß aller in Europa verkauften Pkw festgelegt.
Als die Autoindustrie jedoch vermehrt sogenannte SUV (Sport Utility Vehicle) auf den Markt brachte, sah die EU-Kommission darin den Bruch der freiwilligen Selbstverpflichtung und begann mit den Arbeiten an einer verpflichtenden Rechtsverordnung. Diese sah in einem ersten Schritt vor, dass Autobauer den Kohlendioxidausstoß (CO2) ihrer Fahrzeugflotte bis 2012 von 160 Gramm auf 120 Gramm je Kilometer begrenzen mussten.
Weitere Schritte sollten mit immer schärferen Grenzwerten folgen, wodurch vor allem die Hersteller großer Fahrzeuge, also deutsche Autohersteller, in Schwierigkeiten kommen mussten. Die Autobranche war deshalb alarmiert, und VW-Chef Herbert Dies griff die europäische Politik scharf an: „Der jetzige Feldzug gegen die individuelle Mobilität und damit gegen das Auto nimmt existenzbedrohende Ausmaße an“, sagte er. „Wer sich ehemalige Autohochburgen wie Detroit, Oxfort-Cowley oder Turin anschaut, der weiß, was mit Städten passiert, in denen einst starke Konzerne und Leitindustrien schwächeln.“
Auch die deutsche Bundesregierung – von Kanzlerin Merkel bis hin zu Umweltminister Gabriel – kritisierten den Verordnungsvorschlag der Kommission und werteten ihn als Angriff auf die deutsche Fahrzeugindustrie. Bemerkenswert an dieser Reaktion war jedoch, dass nur die Höhe der Grenzwerte kritisiert wurden, nicht aber die Entscheidung der EU-Kommission, die freiwillige Selbstbeschränkung durch eine verpflichtende Verordnung zu ersetzen. Nunmehr konnte die EU-Kommission über die Festsetzung der Grenzwerte allein entscheiden und war nicht mehr auf die Zusammenarbeit mit der Automobilindustrie wie bei der freiwilligen Selbstbeschränkung angewiesen. Das war der von Hans-Werner Sinn angesprochene „Oktroi“. 

  Dieselkandal 2017

Jahrzehnte lang erfreute sich der Diesel unter den Autofahrern in Deutschland großer Beliebtheit. Wegen steuerlicher Förderung zahlte der Autofahrer für den Liter Diesel deutlich weniger als für den Liter Benzin. Zudem punktete der Dieselmotor im Vergleich zum Benziner mit einem geringeren Kraftstoffverbrauch. Dieser Vorteil war insbesondere für Vielfahrer und Käufer größerer Fahrzeuge ein wichtiges Argument, sich für einen Diesel statt für den Benziner zu entscheiden.
Bei den Schadstoffemissionen ist der Vergleich zwischen dem Dieselmotor und dem Benzinmotor komplexer. Der Dieselmotor stößt zwar mehr schädliche Stickoxide als der Benziner aus, trotz seines höheren Kohlenstoffanteils produziert er aber wegen seiner effizienten Verbrennung weniger klimaschädliches CO2 als der Benziner. Der geringere CO2-Ausstoß macht Dieselfahrzeuge deshalb zu einem unverzichtbaren Baustein bei der Umsetzung der europäischen Klimaschutzziele.
Das war der Grund, warum die Autobauer an dem Dieselmotor festhielten. BMW-Vorstandschef Harald Krüger erklärte dazu: „Die Dieseltechnologie ist für das Erreichen des CO2-Ziels definitiv erforderlich.“ Der Dieselmotor stoße zwar mehr giftige Stickoxide und andere Schadstoffe aus als Benziner, habe aber durchschnittlich eine um 15 Prozent bessere CO2-Bilanz. So sahen es auch die Gewerkschaften. IG-Metall-Chef Jörg Hofmann sagte: „Die CO2-Ziele sind ohne Diesel nicht zu schaffen. Ich verstehe nicht, warum das CO2-Ziel, also der Klimaschutz, plötzlich ignoriert wird, nur um den Diesel in Misskredit zu bringen.“
Angela Merkel unterstützte während ihrer Ratspräsidentschaft insbesondere die Pläne der Europäischen Union, den Kohlendioxidausstoß von Fahrzeugen mit neuartigen technischen Mitteln bis 2012 auf 120 Gramm je Kilometer zu begrenzen. Mit solchen Grenzwerten konnten wohl Massenhersteller wie Peugeot, Renault und Fiat mit ihren kleinen und sparsamen Autos leben, aber nicht Daimler, Audi oder BMW mit den größeren Fahrzeugen. Angeblich differenzierte die Bundeskanzlerin nicht zwischen kleinen und großen Autos, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sie wollte die deutsche Autoindustrie begünstigen. Die Benachteiligung deutscher Hersteller nahm sie dann aber in Kauf.
Die deutschen Autobauer machten gute Miene zum bösen Spiel, weil die Bundeskanzlerin ihnen ihre Unterstützung bei der Umsetzung der EU-Normen versprach. Tatsächlich steckte die deutsche Automobilbranche jedoch in einem Dilemma, weil sie wusste, dass sie die europäischen CO2-Emissionsstandards für Kraftfahrzeuge bis 2020 nicht erreichen konnte und ihr beim Überschreiten der zulässigen CO2-Emissionen hohe Strafen drohten. Jedes Gramm über dem Ziel sollte von 2020 an 95 Euro für jedes verkaufte Auto kosten. Die EU-Kommission wollte daran nicht rütteln: „Das Ziel steht im Gesetz, Punkt“, hieß es knapp.
Bei dem im Jahr 2017 aufgedeckten Dieselskandal ging es um massive Verstöße der deutschen Automobilbranche gegen die Verletzung gesetzlicher Umweltstandards durch unzulässige Manipulationen bei der Messung von Emissionen. Die Europäische Kommission hatte schon im Jahre 2011 bei einer von ihr durchgeführten Untersuchung festgestellt, dass die Emissionen von Diesel-PKWs bei realen Straßenfahrten über den erlaubten Grenzwerten lagen. Am 20. September 2015 musste Volkswagen aufgrund solcher Ermittlungen einräumen, das Motorsteuergerät von 11 Millionen Dieselfahrzeugen so programmiert zu haben, dass es eine Prüfsituation auf dem Rollenprüfstand erkennt und auf ein anderes Kennfeld umschaltet. Eine solche Abschalteinrichtung war weder in den USA noch in Europa erlaubt. Daraufhin trat der Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn von seinem Posten zurück. Das war der Auslöser für den Dieselskandal in der Automobilindustrie.
Die Verantwortlichen für diesen Skandal saßen in den Vorständen der Autobauer. Viele sind inzwischen verurteilt worden. Mitverantwortlich fühlte sich auch die IG-Metall, wie ihr Chef Jörg Hofmann in der FAS vom 30. Juli 2017 zugab: „Ja, wir tragen Verantwortung. Wir haben als IG Metall ständig darauf gedrängt, dass Ehrlichkeit und Transparenz einziehen, haben gemahnt: So geht es nicht weiter.“
Die Politik reagierte auf den Dieselskandal wie die Medien mit Empörung. Dabei hatte der Aufstieg der deutschen Autobranche nicht nur mit Ingenieurskunst zu tun, sondern auch damit, dass die politisch Verantwortlichen ihre schützende Hand über sie gehalten hatten. Bundeskanzlerin Angela Merkel war keine Ausnahme. Als Klimapolitikerin setzte sie sich zwar für ehrgeizige Umweltstandards ein, in ihrer Rolle als Autokanzlerin hatte sie aber keine Bedenken, zugunsten der Autoindustrie bei der EU-Kommission zu intervenieren, wenn es um konkrete Auflagen für Autos ging. Nach dem Dieselskandal wollte sie davon nichts mehr wissen.  
"Der Kern des Problems ist nicht allein der Betrug der Autoindustrie", sagte Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. "Dass die wirklichen Abgaswerte teilweise fünfzehnfach vom Testbetrieb abweichen, das zeigt das Versagen der Autoindustrie, aber auch der Politik im Bund und der EU. Jetzt sitzen uns die Gerichte im Nacken, gleichzeitig sollen wir die Grenzwerte einhalten. Das grenzt an die Quadratur des Kreises."  

Die Warnungen der Autoindustrie

Während Angela Merkel 2017 in Berlin mit der Bildung der Jamaika-Koalition beschäftigt war, sah die deutsche Automobilindustrie mit großer Sorge den neuen CO2-Auflagen entgegen, welche die EU-Kommission Anfang November präsentieren wollte. Es ging um die Frage, wie stark die zulässigen Kohlendioxidgrenzwerte für neu zugelassene Fahrzeuge in Europa bis zum Jahr 2030 gesenkt werden sollten.
Die EU-Kommission erwog nach Informationen aus Brüssel eine Senkung der CO2-Emissionen zwischen 30 und 40 Prozent. Das hieß, die Kohlendioxidausstoß von Neuwagen musste bis 2030 gegenüber 2021 im Schnitt um diese Prozentzahl reduziert werden. Die Automobilhersteller schlugen stattdessen eine CO2-Reduktion von 20 Prozent vor. Hinzu sollten Innovationsanreize kommen: wenn Hersteller eine besonders klimafreundliche Technologie anboten, sollte dies bei den neuen Testverfahren berücksichtigt werden. Aus Sicht der Industrie war ein System, das Anreize für saubere Antriebe fördert, sinnvoller als ein System, das Grenzwertüberschreitungen bestraft.
Hinter den Kulissen wurde intensiv verhandelt und gefeilscht. Die deutschen Autobauer hatten die Hoffnung, die drohende 40-Prozentgrenze verhindern zu können. Mit der Unterstützung der Bundeskanzlerin konnten sie aber nicht mehr rechnen, obwohl sie Merkels Hilfe dringender denn je brauchten. Stattdessen appellierte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) an Brüssel, die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Branche nicht zu überfordern. Auch EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger sprang für die Hersteller in die Bresche. Er warnte vor Planwirtschaft und unrealistischen Klimazielen: „Einige Politiker sind zu blauäugig und glauben, die Autoindustrie schafft jede Vorgabe.“
Die Sache war kritisch, weil die Unterstützung für die deutschen Interessen auf der EU-Ebene bröckelte. Lediglich Italien zog noch mit Deutschland an einem Strang. In Brüssel kursierte ein Brief von wichtigen EU-Mitgliedsländern, in dem von der EU-Kommission eine härtere Gangart gefordert wurde. Dabei ging es auch um die Forderung, dass Europa die ambitionierten Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einhalten müsste. Letzteres trieb vor allem die Grünen an. „Wenn das Pariser Abkommen realisiert werden soll, müssen die Grenzwerte um 60 Prozent abgesenkt werden“, rechnete der niederländische Europaabgeordnete Bas Eickhout vor.
Die EU-Kommission wählte schließlich einen Mittelweg. Am 8. November 2017 teilte sie mit, dass die Autohersteller den Kohlendioxidausstoß ihrer Neuwagenflotte bis 2030 um 30 Prozent - verglichen mit den Grenzwerten für 2021 - senken sollten. Bis 2025 sollte der Ausstoß schon um 15 Prozent zurückgehen. Gleichzeitig soll der Anteil von Elektrofahrzeugen bis 2025 auf 15 Prozent und bis 2030 auf 30 Prozent steigen. Die EU-Kommission verzichtete aber auf eine verbindliche Elektroquote.
Der Vorschlag der EU-Kommission, der unter dem Einfluss Frankreichs zustande gekommen war, war ein entscheidende Schritt auf dem Weg zu einem faktischen Verbrenner-Verbot. In der Bundesregierung brach daraufhin ein offener Streit über die geplanten schärferen CO2-Grenzwerte für Autos aus. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) sprach sich für strikte Grenzwerte aus. "Das große Sorgenkind im Klimaschutz ist der Verkehrssektor, hier muss dringend mehr passieren", sagte sie. Demgegenüber warnte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) vor zu ehrgeizigen Zielen. "Wir brauchen keine willkürlichen politisch-ideologischen Grenzwerte, sondern realistische technisch machbare Grenzwerte", so Scheuer. Die "Vernichtung einer europäischen Leitindustrie" mache er nicht mit.
Auch diesmal hielt sich die Bundeskanzlerin zurück, plädierte aber für strenge CO2-Grenzen. "Wir müssen besser werden", sagte sie auf einer Klimakonferenz Mitte Juni 2018. "Unser großes Sorgenkind ist der Verkehr." Wie sie zu dem Streit zwischen ihren Ministern stand, ließ sie offen. Jedenfalls führte die Uneinigkeit in der Bundesregierung dazu, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen auf EU-Ebene nicht mit einer einheitlichen Linie auftreten konnte. Das stärkte nicht die deutsche Verhandlungsposition, war die allgemeine Meinung in Brüssel.
Noch nie hatte die Automobilindustrie, die einstige Vorzeigebranche, einen so geringen politischen Einfluss auf die deutsche Regierung wie in der letzten Regierungsperiode von Angela Merkel. "Wir werden nicht mehr vorgelassen", klagten Top-Manager. Zudem konnten die deutschen Premiumhersteller nur auf wenige Verbündete in anderen EU-Ländern hoffen, weil die meisten entweder Kleinwagen verkauften oder gar keine Autos produzierten. So hatten französische Beamte und Politiker auf der politischen Bühne in Brüssel leichtes Spiel.  
Mitte Oktober 2018 warnte VW-Chef Herbert Dies die Politik davor, die Autobranche mit immer neuen Umweltvorgaben zu überfordern, während sich ausländische Konkurrenten für den deutschen Markt rüsteten. Die deutsche Autoindustrie könnte sonst ihre Spitzenposition am Weltmarkt verlieren. „Aus heutiger Sicht stehen die Chancen vielleicht bei 50:50, dass die deutsche Automobilindustrie in zehn Jahren noch zur Weltspitze gehört“, sagte er auf einer VW-Veranstaltung in Wolfsburg (DIE WELT vom Oktober 2018).
Ende 2018 einigten sich die Unterhändler von Europäischem Parlament und Ministerrat, dem Gremium der Staaten, nach monatelangen Verhandlungen, die Kohlendioxidgrenzwerte für Autos um rund ein Drittel zu reduzieren. Bis 2025 sollte sich der CO2-Ausstoß der Neuwagenflotten für Autos um 15 Prozent reduzieren. Fünf Jahre später sollten Autos 37,5 Prozent weniger emittieren. Im Jahr 2023 wollte die Kommission die Grenzwerte dann überprüfen.
Erneut reagierte die Autoindustrie alarmiert auf diese Nachricht aus Brüssel. VW-Chef Herbert Diess warnte erneut, es stünden 100.000 Arbeitsplätze im VW-Konzern auf dem Spiel, falls die Grenzwerte zu stark abgesenkt würden. Allein in Deutschland sind 830.000 Beschäftigte in der Autobranche von den künftigen Klimazielen betroffen. In keinem anderen Teil der Welt gibt es vergleichbar scharfe CO2-Ziele, beklagte der Verband der Automobilindustrie.  Die Europäische Branchenvereinigung Acea bezeichnete sie als „total unrealistisch“.
Autofachleute sind sich einig, dass die neuen CO2-Ziele die Branche verändern werden. Für die Auto-Industrie gibt es nur zwei Wege, die Ziele zu erreichen, sagte Jürgen Pieper, Autofachmann des Bankhauses Metzler: „Man kann die Flotte kleiner und leichter machen und so die Emissionen senken.“ Allerdings würde das der Premiumstrategie vieler Hersteller widersprechen. Der zweite Weg: „Elektrifizierung – komme was da wolle.“ Aber selbst dann dürfte es schwer werden, die Ziele im Jahr 2030 auch tatsächlich zu erreichen. Für den Volkswagen-Konzern bedeutet dies laut VW-Chef Herbert Diess, dass der Anteil von E-Fahrzeugen bis dahin 40 Prozent des Gesamtabsatzes betragen müsste.
Die Bundesregierung reagierte unterschiedlich auf das Brüsseler Verhandlungsergebnis. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) sprach von einem „guten Ergebnis, das uns beim Klimaschutz und Zukunftsjobs voranbringen wird“. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) meinte, er sei „grundsätzlich optimistisch, dass wir diesen Kompromiss umsetzen – wenn auch mit Bedenken und Sorgen“.


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