Der „US Inflation Reduction Act (IRA)“
Im August 2022 unterzeichnete US-Präsident Biden den “US Inflation Reduction Act (IRA)”. Mit diesem Gesetz reagierte die amerikanische Regierung auf die aktuellen Probleme der USA: 1. Die Deindustrialisierung und Verarmung ganzer Landstriche; 2. Das infolge der Globalisierung gewachsene Risiko bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern; 3. Die technologische, wirtschaftliche und militärische Bedrohung durch China. Also müssen junge Industrien gefördert und geschützt werden – mit einer Kombination aus Subventionen und Protektionismus.
Insgesamt sieht das Gesetz Gesamtausgaben von 725 Milliarden US-Dollar vor. Die Mittel sollen über einen Zeitraum von 10 Jahren unter anderem als Steuergutschriften an Käufer von Elektrofahrzeugen, umweltfreundlichen Technologiegütern sowie von Ökostrom fließen. Außerdem sieht das Gesetz staatliche Zuschüsse für klimafreundliche Projekte vor. Insgesamt planen die USA Investitionen in Höhe von 374 Milliarden US Dollar in den Klimaschutz und die Stärkung der Zukunftsbranchen.
Beeindruckend ist auch die Gegenfinanzierung dieses Investitionsprogramms: Die US-Regierung plant keine Kreditaunahme, sondern eine Mindeststeuer von 15 Prozent für die großen Tech-Konzerne, die ihre Gewinne unversteuert im Ausland bunkern. Damit löst die Biden-Regierung gleichzeitig ein Steuerproblem, was bei der europischen Diskussion über das IRA-Programm gern unterschlagen wird.
In der Elektroförderung verfolgt die Biden-Regierung drei strategische Ziele: Sie will Amerika mit Zukunftsbranchen reindustrialisieren, sie will sich Chinas politischen und technologischen Hegemoniebestrebungen entgegenstellen, und sie will die Wirtschaft klimaverträglich umbauen.
Die in dem Gesetz gewährten Subventionen und Gutschriften sind an inländische Lieferklauseln gebunden (Local Content – Erfordernisse). So ist etwa ein Bonus in Höhe von 7.500 Dollar für jeden US-Bürger vorgesehen, der ein Elektrofahrzeug aus US-Produktion mit einer in den USA gefertigten Batterie kauft. Gestärkt werden soll damit die Produktion in den USA selbst. Außerdem müssen von 2026 an 80 Prozent der seltenen Mineralien für die Antriebsbatterien in Amerika oder Ländern geschürft werden, die mit den USA ein Freihandelsabkommen haben. Die EU gehört bislang nicht dazu.
Der „US Inflation Reduction Act (IRA)” sorgte auf europäischer Seite des Atlantiks für erhebliche Irritationen. Ein solches Gesetz habe man wohl Trump, aber nicht Biden zugetraut. Denn das Gesetz ist ein massiver Verstoß gegen das multilaterale Handelssystem, zu dem sich die EU weiterhin bekennt. Frankreichs Präsident Macron forderte umgehend, dass Europa zwischen den USA und China ein „dritter Pol“ werden müsste.
Robert Habeck sah im IRA einerseits ein „gutes Zeichen“, dass die Amerikaner den Klimawandel deutlicher als bisher bekämpfen wollten, dieses Paket dürfe aber nicht die Wettbewerbsbedingungen verzerren. EU-Wettbewerbskommissar Dombrovskis beschwor die Bildung von Allianzen „bei unseren gemeinsamen Klimazielen, statt Konflikte zu riskieren“. Eine einheitliche Linie in der EU als Reaktion auf den amerikanischen IRA gab es jedoch nicht. Um mögliche Unstimmigkeiten beizulegen, haben die EU und die USA eine Arbeitsgruppe (TTC) ins Leben gerufen, was darauf hindeutet, dass beide Seiten zumindest an einer Schadensbegrenzung interessiert sind.
Themen gibt es auf beiden Seiten: Den Amerikanern gefällt der EU-Klimazoll nicht, der Einfuhren von Produkten mit großem CO2-Fußabdruck verteuern soll. Kritisch betrachtet Washington auch den Einfluss, den chinesische Investoren inzwischen auf die deutsche Wirtschaft, vor allem in der Autoindustrie, ausüben. Auch dass Bundeskanzler Scholz der chinesischen Reederei Cosco eine Beteiligung am Hamburger Hafen ermöglichte, kam in Amerika nicht gut an.
Die Europäer wiederum treibt der Exportbann der USA für Hightechchips und Chiptechnologie um. Dieser trifft zum Beispiel den holländischen Spezialisten ASML, der Technologieführer für Maschinen zur Fertigung dieser Chips ist. ASML kooperiert eng mit den deutschen Firmen Trumpf und Zeiss. Aus Sicht von Wirtschaftsminister Habeck hat Europa angesichts der Blockbildung nur eine Wahl, nämlich die, ebenfalls verstärkt Industriepolitik zu betreiben. Die Franzosen weiß er damit auf seiner Seite.
Auf dieser Linie verhandelt auch die EU-Kommission mit Washington. Man wolle kein Wettrennen um die meisten Subventionen und die schärfsten Abschottungen. Die Kommission versucht, mit der US-Regierung Ausnahmen vom IRA zu vereinbaren. Unter anderem geht es um seltene Erden, die für die Batterieproduktion benötigt werden und laut IRA zu 40 Prozent aus den USA stammen müssen. Die EU zielt auf eine Freistellung von dieser Bedingung ab.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat im Dezember 2022 skizziert, wie sie sich die Antwort der EU auf die IRA vorstellt. Sie will den EU- Staaten ebenfalls großzügige Staatshilfen erlauben, um grüne Technologien bis zur Massenproduktion zu fördern. Außerdem will sie einen schuldenfinanzierten Souveränitätsfonds auflegen. Gleichzeitig hat die EU-Kommission zahlreiche neue Instrumente zur europäischen Industriepolitik beschlossen: den Chips Act, den Net Zero Industry Act und den Critical Raw Material Act.
Während die EU noch über die passende Antwort zum amerikanischen IRA-Programm diskutiert, haben deutsche Firmen ihre Entscheidung längst gefasst; sie investieren in Amerika.
BMW wird für 1,7 Mrd. Dollar in den kommenden Jahren ihr Werk in Spartanburg weiter ausbauen. Siemens plant in North Carolina ein modernes Werk für den Bau von Bahnwaggons mit 500 Arbeitsplätzen. Volkswagen baut in South Carolina eine neue Fabrik für Elektroautos. Rund 4000 Arbeitsplätze entstehen dort, zwei Milliarden Dollar werden investiert, wovon die amerikanische Regierung 1,3 Milliarden Dollar zuschießt. Geplant war das Werk bereit vor Verabschiedung des IRA.
Der Startup Northvolt kündigte an, die geplante Fabrik zur Herstellung von Batteriezellen für Elektroautos in Schleswig-Holstein nicht nur wegen der horrenden Energiekosten, sondern auch wegen der Subventionen in den USA überdenken zu wollen. Die Förderung in den USA senke die Produktionskosten dort um 30 bis 40 Prozent. Auch der Zulieferer Schaeffler hat angekündigt, mehr in den USA zu investieren. „Die Investitionen gehen dahin, wo die Zukunftswachstumschancen sind“, sagte Firmenchef Klaus Rosenfeld. Linde wiederum investiert 1,8 Milliarden Dollar in eine neue Anlage zur Produktion von sauberem Wasserstoff und Stickstoff in Texas. Auch Tesla hat sein zweites Bauprojekt, eine große Batteriefabrik in Grünheide auf Eis gelegt und angekündigt, man wolle verstärkt in den USA investieren.
Das Chemieunternehmen Evonik baut im Bundesstaat Indiana eine weitere Anlage zur Herstellung von Lipiden, die zur Herstellung von Impfstoffen benötigt werden. Das Projekt soll 220 Millionen Dollar kosten, davon kommen 150 Millionen Dollar vom amerikanischen Staat. Evonik-Chef Christian Kullmann beschreibt das als neue Normalität: „Es gibt einen rasanten Subventionswettlauf, den wir in dieser Intensität, Rücksichtslosigkeit und Aggression seit dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr gesehen haben.“
Und der Wettlauf um Zukunftstechnologien wird nach seiner Meinung in den kommenden Jahren noch schärfer. Wenn heute schon teilweise 70 Prozent einer Investition von der öffentlichen Hand übernommen werden, könnte es künftig sogar mehr sein. Deutschland und die EU drohen dabei den Anschluss zu verlieren, nicht nur wegen Subventionen, sondern wegen der „schwerfälligen Bürokratie“.
Kullmann wählt für seine Politikerschelte markige Worte: In Berlin und Brüssel brauche es „weniger Palaver und mehr Pragmatismus“. Die „sogenannte Fortschrittskoalition“ habe bisher „ganz konkret nix“ verändert. Es reiche nicht, als „Lippenbekenntnis“ zu sagen: „Wir müssen Industriestandort bleiben.“ Die Anlage, die in Indiana entsteht, hätte Deutschland auch haben können. Doch zunehmende protektionistische Neigungen sorgten für Handelshemmnisse, ob in China, den USA oder Europa. Parallel dazu gingen viele Regionen mit Investitionshilfen in die Offensive, um Spitzentechnologien anzusiedeln. „Diesen Wettbewerb haben wir für Evonik genutzt und ausgenutzt.“ Im Gegensatz dazu habe der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) keinerlei Finanzhilfen in Aussicht gestellt: „Die Nettobotschaft war: Das brauchen wir hier nicht.“
Deutschland und die EU sehen sich inzwischen unter einem gewaltigem Handlungsdruck. Ökonomen wie Jens Südekum warnen bereits davor, dass ganze Branchen aus Europa verschwinden könnten – und in die USA übersiedeln. „Bei den Zukunftsinvestitionen muss Europa direkt reagieren, vor allem durch schnelle und unbürokratische Förderinstrumente“, sagte der Wettbewerbsexperte. Man dürfe dabei aber nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. „Bei einer solchen Eskalationsspirale verlieren am Ende beide.“ Er rät stattdessen, mit Washington zu verhandeln, etwa um Ausnahmegenehmigungen.
Möglicherweise könnte es dafür aber schon zu spät sein. Laut einer Umfrage der Außenhandelskammern plant jede sechste deutsche Firma weitere Investitionen in den USA. Dafür braucht es aber nicht zwangsläufig Subvention, sagt Stefan Kooths, Direktor am Kieler Institut für Weltwirtschaft: „Für Standortentscheidungen sind Subventionen nachrangig.“ Wichtiger seien andere Faktoren, wie Infrastruktur, Steuerlast oder Nähe zu den Absatzmärkten. „von daher werden Subventionen gern mitgenommen, den Ausschlag dürften sie nur in den seltensten Fällen geben“, sagte Kooths.