CDU und Russlandpolitik
Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine verneint und ist dafür u.a. von dem früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) kritisiert worden. Aus Schäubles Sicht haben alle Politiker den Fehler gemacht, die Bedrohung durch Wladimir Putin zu unterschätzen. "Wir wollten es nicht sehen. Das gilt für jeden." Er sei in diesem Punkt auch wütend auf sich selbst. Anzeichen für die Gefahr habe es nämlich gegeben.
So sieht es auch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken: "Es war ein parteiübergreifender Fehler der deutschen Politik, die Entwicklung in Russland zu naiv zu beurteilen und die warnenden Stimmen aus Ost- und Mitteleuropa zu überhören. Wir hätten sehen können, was Putin vorhat, wir haben es aber alle nicht sehen wollen. Die günstigen Energiepreise haben uns für die Gefahren blind gemacht."
Für Wolfgang Schäuble ist es deshalb "bemerkenswert", dass Angela Merkel "auch jetzt in Bezug auf Russland nicht sagen kann, dass wir Fehler gemacht haben". Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sollte deshalb mit einer "selbstkritischen Reflektion" nicht länger warten - auch als Grundlage für eine neue Ost- und Russlandpolitik.
Der langjährige politische Berater der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Joachim Falenski, hat dazu in der FAZ vom 20. Februar 2023 eine wichtige Vorarbeit geleistet, auf der die nachfolgenden Ausführungen beruhen.
Wladimir Putin
Die selbstkritische Reflektion sollte mit der Einschätzung der Pesönlichkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin beginnen:
Die Bundesregierung wusste, dass der russische Präsident Wladimir Putin in St. Petersburg seinerzeit als leitender Beamter der Stadt eng mit der organisierten Kriminalität zusammengearbeitet hatte. Es war auch kein Geheimnis, dass die Regierungsmannschaft im Kreml überwiegend aus Mitarbeitern des Auslands- (KGB) und des Inlandsgeheimdienstes (FSB) bestand, denen jedes Mittel recht war, um an der Macht zu bleiben. Wahlen wurden manipuliert, unliebsame Medien unterdrückt, die Opposition ausgeschaltet, kritische Journalisten wurden ermordet. Schon aus diesen Gründen hätte die Bundesregierung dem Kreml mit erheblicher Skepsis und äußester Vorsicht gegenübertreten müssen.
Bekannt waren auch die imperialistischen Intentionen des Kremls: Schon in seiner Rede zur Lage der Nation am 20. April 2005 bezeichnete Putin "den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Das war die Ankündigung, in der Nachbarschaft Russlands die alte Vorherrschaft des Kremls wiederherstellen zu wollen. Dass solchen Absichten Taten folgen würden, wollte man in den Berliner Regierungskreisen offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen. Man verdrängte die Gefahren, um insbesondere das Gasgeschäft mit Russland nicht zu stören.
Dass Putin nicht vor militärischen Einsätzen zurückschreckte, zeigten die Angriffe auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014. Dem waren die "Rosenrevolution" (2003) in Georgien und die "Orangene Revolution (2004) in der Ukraine vorausgegangen, womit Russland seinen Einfluss in diesen Ländern verloren hatte. Putin wollte darin eine "Einkreisung" des Westens erkennen und griff beide Länder an. Den Plan für den Angriff auf Georgien hatte der russische Generalstab schon 2006 fertiggestellt, also deutlich früher, als in der NATO über eine Mitgliedschaft von Georgien nachgedacht wurde. Auch die zunehmenden Drohungen gegenüber der Ukraine musste man als unmissverständliche Hinweise auf eine bevorstehende militärische Konfrontation verstehen.
Mit welcher Rücksichtslosigkeit und Brutalität Putin seine Kriege führen lässt, zeigte sich schon im Tschetschenienkrieg 1999 und 2000 und zeigt sich jetzt in der Ukraine. Das ist das krasse Gegenteil zu den humanen Werten und Rücksichtnahmen, die nach westlichen Vorstellungen auch in Kriegen zu gelten haben. Ein solches Regime mit dem Slogan "Wandel durch Annäherung" gewinnen zu wollen, war reine Illusion.
"Sicherheitsstrategie für Deutschland"
Zu den Mitteln des Kremls, seine imperialen Ziele durchzusetzen, gehört vor allem das Gas als politische Waffe.
Putin griff zu diesem Mittel bereits Anfang 2006, als er die Gaslieferungen an die Ukraine stoppte, was zu erheblichen Lieferrückgängen in der EU führte. Im Jahr 2009 unterbrach er dann auch die durch die Ukraine führenden Lieferungen an die EU. Schon diese Vorfälle hätten dazu führen müssen, die Energieabhängigkeit von Russland nicht weiter zu erhöhen und stattdessen neu auszurichten.
Bestrebungen dazu gab es in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits im Jahr 2008: Mit dem Beschluss zur "Sicherheitsstrategie für Deutschland" vom 6. Mai 2008 warnte die Fraktion vor den Risiken einer wachsenden Energieabhängigkeit von Russland und der damit verbundenen Erpressbarkeit. Die Fraktion forderte von der Bundesregierung die Diversifizierung von Energieträgern, Lieferländern und Transportwegen.
Obgleich dieser Beschluss mit dem Kanzleramt abgestimmt war, wurde er von der Merkel-Regierung nicht nur ignoriert - im Gegenteil, die Gasimporte aus Russland wurden sogar erhöht, von 44 Prozent im Jahr 2008 auf 57 Prozent im Jahr 2021. Um das zu verstehen, hilft ein Blick auf das damalige Verhältnis der Fraktion zur Kanzlerin.
Die CDU/CSU-Fraktion wurde von Volker Kauder als Fraktionsführer (2005 - 2018) und Michael Grosse-Brömer als 1. Parlamentarischem Geschäftsführer (2012 - 2021) geführt. Beide standen Angela Merkel nahe und sahen ihre Aufgabe vorrangig darin, der Bundeskanzlerin "den Rücken freizuhalten", statt die Eigenständigkeit und das Gewicht der Fraktion gegenüber der Regierung zur Geltung zu bringen.
Von der Führung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurde der Fraktionsbeschluss vom 6. Mai 2008 deshalb weder weiter verfolgt noch gegenüber der Bundesregierung eingefordert. Auch eine Überprüfung der energiepolitischen Position der Bundesregierung fand nicht statt.
Nordstream 2
Im Jahr 2015 unterzeichnete Angela Merkel eine unterstützende Absichtserklärung zu Bau der Gasleitung "Nordstream 2". Damit war das von dem Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) lancierte Projekt faktisch genehmigt. Russisches Gas wurde benötigt, um nach dem Ausstieg aus der Atomenergie (und dem geplanten Kohleausstieg) die Stromversorgung in Deutschland mit Gaskraftwerken sicherzustellen. Merkel rechtferigte das Projekt damit, dass es sich nur um ein "kommerzielles Projekt der Wirtschaft" handelte.
Auch die Entscheidung für Nordstream 2 war eine fatale Folge dessen, dass die CDU/CSU-Fraktion ihr Gewicht nicht einbrachte und dass sich Merkel wiederum über die in der Fraktion geäußerten Bedenken hinwegsetzte. Die Fraktion war allerdings gespalten:
Die Außen-, Sicherheits- und Europapolitiker von CDU und CSU wiesen auf die Gefahren und Risiken von Nordstream 2 hin. Merkels Einwand, die Pipeline sei ein "kommerzielles Projekt", hielten sie entgegen, dass es sich bei Nordstream 2 für den Kreml sehr wohl um ein strategisches Vorhaben handelte, das die deutsche Energieabhängigkeit von Russland vergrößern und der Ukraine Duchleitungsgebühren entziehen sollte. Dafür wären die Gasunterbrechungen in den Jahren 2006 und 2009 klare Signale gewesen.
Die Wirtschafts- und Energiepolitiker in der Fraktion teilten demgegenüber die Meinung der Kanzlerin, dass es sich bei dem Projekt nur um ein "kommerzielles Projekt der Wirtschaft" handelte. Der Versuch, in einem Gespräch mit der außen- und wirtschaftspolitischen Abteilung des Bundeskanzeramts zu einer einheitlichen Position der Fraktion zu gelangen, scheiterte. Die Fraktionsführung bemühte sich von da an nur noch darum, der Kanzlerin den Rücken freizuhalten. Weitere Einigungsversuche wurden nicht unternommen. Damit konnte die Bundeskanzlerin die Bedenken der Fraktion ignorieren.
Merkels Entscheidung für Nordstream 2 erhielt dadurch eine besondere Brisanz, dass Russland 2014 die Krim annektiert und 2015 auch einen Teil der großen deutschen Gasspeicher unter seine Kontrolle gebracht hatte. Schon dadurch war das Verhältnis zu den baltischen Staaten und insbesondere zu Polen schwer belastet worden. Neben Sicherheits- und ökonomischen Bedenken hatten diese Länder den Eindruck, Deutschland und Russland wollten sich über ihre Köpfe hinweg verständigen.
Bundestagsbeschluss am 9. November 2012
Der Deutsche Bundestag übte in einem Beschluss vom 9. November 2012, der auf Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP zustandegekommen war, eine bis dahin ungewöhnlich deutliche Kritik an der Politik der Kreml-Führung. Der Beschluss wurde ohne Gegenstimmen angenommen. Sogar die oppositionelle Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen stimmten dem CDU/CSU-Antrag zu. Die russlandfreundlichen Fraktionen von SPD und Linkspartei enthielten sich der Stimme.
Zustande gekommen war der Beschluss auf Initiative des Außenpolitikers Andreas Schockenhoff (CDU). Der Bundestag stellte darin "mit besonderer Sorge fest, dass in Russland seit dem erneuten Amtsantritt von Wladimir Putin gesetzgeberische und juristische Maßnahmen ergriffen wurden, die in ihrer Gesamtheit auf eine wachsende Kontrolle aktiver Bürger abzielen, kritisches Engagement zunehmend kriminalisieren und einen konfrontativen Kurs gegenüber Regierungskritikern bedeuten."
Die Bundesregierung wurde aufgefordert, "ihre Besorgnis über diese jüngsten innenpolitischen Entwicklungen in Russland zum Ausdruck zu bringen". Zudem wurde die Bundesregierung beauftragt, bei den Regierungskonsultationen mit Moskau "darauf zu drängen, dass Vertreter der politischen Opposition ihre Aktivitäten frei entfalten und zur Entwicklung eines modernen repräsentativen Parteiensystems in Russland beitragen können". Außerdem sollte die Bundesregierung vom Kreml die Einhaltung der geltenden Standards von Demokratie, Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit einfordern, wozu sich Russland als Mitglied des Europarates auch verpflichtet hatte.
Der Beschluss vom 9. November 2012 wurde vom Ausland als Kurswechsel hin zu einer kritischeren Russlandpolitik gewertet. Entsprechend heftig reagierte das russische Außenministerium. Er blieb jedoch ohne die erhoffte Wirkung, weil die SPD nach der Rückkehr in die Regierung Ende 2013 auf einen verständnisvolleren Kurs gegenüber der russischen Regierung bestand. Deshalb waren CDU/CSU und SPD bis zum Ende ihrer Regierungszeit 2021 nicht in der Lage, sich auf einen einheitlichen Kurs in der Russlandpolitik zu verständigen.
"Positionspapier zu Russland"
Die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion waren deshalb gezwungen, ihre kritische Einstellung gegenüber dem Putin-Regime in Reden und Positionspapieren zum Ausdruck zu bringen.
So stellte die CDU/CSU-Fraktion am 29. November 2016 in ihren "Positionspapier zu Russland" fest, dass Moskau durch seinen "aggressiven postsowjetischen Revisionismus" Völkerrecht gebrochen und schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hatte. Weil die Aggressionen Russlands den Frieden in ganz Europa gefährdeten, "brauchen wir im Verhältnis zu Russland so viel Verteidigungsfähigkeit wie möglich". Eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland wäre nur denkbar bei einem vollständigen Rückzug der russischen Streitkräfte aus dem Donbass und der Rückgabe der Krim an die Ukraine.
Auch dieses Papier blieb in der von Angela Merkel geführten Regierung ohne spürbare Wirkung:
Die deutsche Außenpolitik setzte hinsichtlich des Einfalls der Russen in die Ukraine weiterhin auf eine Verhandlungslösung im Rahmen des Minsker Abkommens.
Der Bau der Pipeline Nordstream 2 wurde mit der politischen Rückendeckung der Bundesregierung bis zu seiner Fertigstellung im Jahr 2021 weiterbetrieben.
Die Bundeswehr blieb unterfinanziert, so dass der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 bekennen musste: "Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank dar...".