Der Gasnotstand kann vermieden werden!
Putin hat die Lieferung von russischem Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland und Europa um 60 Prozent gedrosselt. Mitte Juli will der russische Staatskonzern Gazprom diese Pipeline außerdem einer zehntägigen Wartung unterziehen. Was dann passiert, ist ungewiss und hat bei der Bundesregierung sowie in der Industrie zu großer Nervosität geführt. Auf dem Petersburger Wirtschaftsgipfel hat Putin jüngst in scharfen Worten deutlich gemacht, dass zukünftig nach russischen Regeln gespielt wird. Deswegen hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Alarmstufe ausgerufen.
Für Habeck ist sein Vertrauter Klaus Müller (beide Grüne) der Mann, der die Gas-Krise an entscheidender Stelle managen soll. Müller ist Präsident der Bundesnetzagentur, die für die zentralen Netze wie Gas, Strom, Telekommunikation, Post und Eisenbahn verantwortlich ist. Früher war Müller oberster Verbraucherschützer in Deutschland. Dem „Hamburger Abendblatt“ hat er jüngst in einem Interview dargestellt, wie er die Lage beurteilt und die Krise lösen will.
Laut Müller sind die Gasspeicher aktuell erst zu 60 Prozent gefüllt. Die Bundesregierung hat deshalb die Marktgebietsverantwortlichen mit 15 Milliarden Euro ausgestattet, damit auf dem Markt Gas eingekauft und eingespeichert werden kann – zu extrem hohen Preisen. Darüber hinaus sind vier schwimmende Flüssiggasterminals gechartert worden, wovon zwei im Winter in Betrieb gehen sollen. Müller wollte in dem Interview aber nicht ausschließen, dass Industriebetriebe oder Privathaushalte im nächsten Winter ohne Gas dastehen.
Der Präsident der Bundesnetzagentur Müller sieht den Weg aus der Gas-Krise in erster Linie darin, dass Haushalte und Wirtschaft Gas sparen – vor allem mit einer optimalen Heizungseinrichtung. Er forderte die Haushalte auf, die Heizung überprüfen und effizient einstellen zu lassen. Die Handwerker bat er, sich bei ihrer Arbeit auf die Heizungen und Warmwasserversorgung zu konzentrieren. In den Familien sollte überlegt werden, ob im Winter jeder Raum die gewohnte Temperatur haben soll. Müller ließ jedoch offen, ob das auf Freiwilligkeit beruhen oder der Bürger per Gesetz zum Sparen verpflichtet werden soll.
Seinen Appell begründete Müller mit dem Hinweis auf die steigenden Gaspreise: An der Börse haben sich die Gaspreise seit dem letzten Sommer versechsfacht und liegen aktuell bei 130 Euro pro Megawattstunde. Diese Preise werden erst zeitverzögert bei den Verbrauchern ankommen, weil die „Preisanpassungsklausel“ aktuell noch nicht greift. Für den Fall von Preissteigerungen sagte Müller zu, dass der Staat „diejenigen, die es wirklich nötig haben, gezielt unterstützen“ wird. Offen ließ er jedoch, was mit den Gasimporteuren geschieht, die derzeit unter enormen Stress stehen, weil sie nur zu den gestiegenen Preisen importieren können, ihre Lieferverträge aber zu den alten Preisen erfüllen müssen.
Sollte die Bundesregierung den "Gasnotstand" ausrufen, wird Müller derjenige sein, der zusammen mit dem Wirtschaftsministerium die Bewirtschaftung des Gases und seine Verteilung regelt. Laut Müller wolle man den Gasnotstand vermeiden, aber wenn es tatsächlich so weit kommt, werden Behörden das Gas zuteilen, wobei für die privaten Verbraucher ein im europäischen Recht geregelter "Bezugsvorrang" gilt.
Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall hat diesen Vorrang der Privathaushalte infrage gestellt und mit dem Motto kritisiert: „Lieber etwas weniger Heizungswärme als den Verlust des Arbeitsplatzes.“ Müller ist allerdings der Meinung, dass die europäische Verordnung mit dem Vorrang der privaten Verbraucher in dieser akuten Situation nicht zur Diskussion gestellte werden sollte.
Fritz Vahrenholt (SPD), früherer Umweltsenator in Hamburg und scharfer Kritiker der grünen Energiewende, hält die bisherigen Bemühungen von Habeck/Müller zur Vermeidung eines Gasnotstandes für unzureichend. Er sieht sich außerdem durch den russischen Überfall auf die Ukraine in seinem früheren Urteil bestätigt, dass die bisherige Energiewende gescheitet ist. In einem Interview mit dem „Hamburger Abendblatt“ begründet er das damit, dass die Sonne nicht immer scheint und ein Windrad oft länger steht, als es sich dreht. Für die Energiewende war deshalb das Gas aus Russland stets das notwendige Backup für Sonne und Wind. So sieht es auch die jetzige Bundesregierung, die Gas ausdrücklich als Brückentechnologie definiert und sich im Koalitionsvertrag geeinigt hat, neue Gaskraftwerke zu bauen.
Nun ist aber durch den Krieg in der Ukraine für die kommenden Jahre eine massive Gasknappheit zu erwarten. Das gebietet laut Vahrenholt, die letzten drei Kernkraftwerke nicht stillzulegen, sondern weiterlaufen zu lassen, weil eine Stilllegung den Gasmangel noch vergrößert. Denn die ausfallende Leistung der Atomkraft erfordert die zusätzliche Verfeuerung von Gas. Die Kohlekraftwerke in Reserve reichen ihrerseits laut Vahrenholt nicht aus, um die Gasverfeuerung zu ersetzen.
Das Weiterlaufen der Kernkraftwerke ist nicht nur zweckmäßig, sondern Vahrenholt hält das auch für möglich. Brennelemente können innerhalb von sechs Monaten geliefert werden, Habeck müsste jedoch schnell handeln statt über die Dauer des Duschens zu reden. Es geht insgesamt um das Schicksal von sechs Millionen Arbeitnehmern in der Grundstoffindustrie, der Chemie, der Glasindustrie, den Großbäckereien etc., deren Arbeitsplätze am Gas hängen. Denn fünfzig Prozent des Gases verbrauchen Industrie und Gewerbe. Selbst der Weltklimarat plädiert für die Nutzung von Kernkraft.
Neben der Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken hält Vahrenholt die Förderung von Schiefergas, also Fracking, für erforderlich, statt solches Gas teuer zu importieren. Nach Expertenmeinung gibt es davon in Deutschland genug und kann in einem Jahr gefördert werden. Außerdem muss die Braunkohle laut Vahrenholt wieder verstärkt zum Einsatz kommen; in Hamburg könnte beispielsweise ein Block im Kraftwerk Moorburg für den Winter hergerichtet werden, der Senat reagiert aber bisher nicht. Wenn Braunkohle genutzt wird, kommt man an der CO2-Sequestrierung nicht vorbei, d.h. CO2 muss abgeschieden und in tiefe Gesteinsschichten verpresst werden. Auch das fordert der Weltklimarat.
Vahrenholt glaubt nicht, dass die bisher vom Wirtschaftsministerium angedachten Sparvorschläge geeignet sind, um den Gasnotstand zu vermeiden. Zudem schaffen die geplanten Importe neue Abhängigkeiten und treiben den Gaspreis noch weiter in die Höhe. Deutschland muss deshalb laut Vahrenholt wieder eigenes Gas gewinnen, das vorhanden ist und für Jahrzehnte reichen würde.
Vahrenholt kritisiert außerdem, dass sich die Politik europaweit auf die Klimafrage reduziert. Energiepolitik muss aber n auch die Wettbewerbsfähigkeit und die Versorgungssicherheit im Blick haben. Stattdessen leistet sich Deutschland seit zehn Jahren eine von Angst und Hysterie getriebene Energiepolitik. Jetzt sollte der Zeitpunkt gekommen sein, wieder ehrlich zu diskutieren.
Vahrenholt ist zuversichtlich, dass angesichts der dramatischen Lage bald alle Tabus auf den Tisch kommen werden. Die Politik wird über CO2-Abscheidung, Fracking und Kernenergie reden müssen. Oder Deutschland ist bereit, auf wesentliche Teile seiner Industrie zu verzichten. Nach Überzeugung von Vahrenholt wird Bundeskanzler Olaf Scholz das jedoch nicht zulassen.