Ad-Hoc-Krisenmanagement
(2010)
In den folgenden Ausführungen berichte ich über meine Tätigkeit und politischen Erlebnisse im Jahr 2010.
Die NRW-Wahl
Im Mai 2010 wählte Nordrhein-Westfalen sein Landesparlament. Für die CDU stand vieles auf dem Spiel: Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) kämpfte um sein politisches Überleben. Für die CDU/FDP-Regierung in Berlin ging es um die Gestaltungsfähigkeit im Bund. Bei einer Wahlniederlage der CDU war die Mehrheit im Bundesrat verloren, so dass SPD und Grüne bundespolitische Vorhaben blockieren konnten. Entsprechend hoch war die Nervosität in Berlin, als dieses Szenario in den Umfragen als möglich erschien.
Die CDU-Führung in Düsseldorf und Berlin reagierte auf die Gefahr eines Wahlverlustes mit einer diffusen Wahlkampfstrategie, um insbesondere Wähler links von der Mitte anzusprechen. Ich hielt diese Strategie für riskant: Jeder Kaufmann wisse, dass man die Stammkunden nicht vernachlässigen dürfe, um die Laufkundschaft zu gewinnen, schrieb ich in der Zeitschrift „souverän“. Wenn die Union ihre treuen Anhänger, die Christlich-Sozialen, die Konservativen und Wirtschaftsliberalen, vergrätze, würde sie beide verlieren, die Stammwähler und die Wechselwähler. Die Union bräuchte jedoch alle. „Das erreicht sie aber nicht mit einem Warenhauskatalog, aus dem sich jede Gruppe das herauspicken kann, was ihr gefällt, sondern sie muss Orientierung, Standfestigkeit und Profil bieten.“ Wenn sich 13 Prozent der Wähler Angela Merkel auch an der Spitze der SPD vorstellen könnten, so spräche das nicht gerade für einen geschärften Marketing-Auftritt der CDU, kritisierte ich. Eine solche Öffnungsstrategie der CDU möchte vielleicht für Koalitionsvarianten auf Bundesebene nützlich sein, der Partei in den Ländern könnte sie aber gewaltig auf die Füße fallen.
Im Vorfeld der Landtagswahl in NRW begann die Bundesregierung zudem, an einer Sparliste zur Konsolidierung des Bundeshaushalts zu arbeiten. Der Grund der Sparoperation war die gigantische Verschuldung aller öffentlichen Kassen. Im Mittelpunkt standen vor allem die Subventionen des Bundes: „Es gibt keine Tabus“, sagte FDP-Haushaltsexperte Otto Fricke und erhielt dafür auch Zustimmung aus der Unionsfraktion. Im Hinblick auf die bevorstehende Landtagswahl in NRW bedeutete eine solche Debatte, zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Jetzt rächte sich, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) noch für 2010 leichtfertig zur Belebung der Konjunktur 80 Mrd. neue Schulden aufgenommen hatte.
Die Sparliste war ein gut gehütetes Geheimnis der Bundesregierung. Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble verloren kein Wort darüber. Gleichwohl kursierten in den Fraktionen von Union und FDP erste Entwürfe mit Sparvorschlägen, die andeuteten, auf welche Einschnitte sich Bürger und Unternehmen in den nächsten Jahren einstellen mussten. Sofort meldeten sich auch die CDU-Ministerpräsidenten zu Wort und forderten, für die Konsolidierung auf die versprochenen Steuersenkungen zu verzichten und stattdessen die Steuern zu erhöhen. Für die Wahl in NRW versprach diese Debatte nichts Gutes.
Ich hielt es durchaus für möglich, dass sich auch Angela Merkel irgendwann von ihrem Steuerversprechen verabschieden könnte. Dass aber die Mitglieder der FDP in der Bundesregierung sich als erste bereitfanden, die im Koalitionsvertrag versprochenen Steuersenkungen von 24 Mrd. Euro auf das Jahr 2012 zu verschieben, überraschte mich dann doch. Offensichtlich gab es in der Koalition schon eine entsprechende Absprache. Ich forderte deshalb die FDP in einem Spiegel-Interview auf, hart zu bleiben. „Die FDP muss hart bleiben, muss in der Steuerfrage der Treiber der schwarz-gelben Koalition sein. Viele Menschen aus dem Mittelstand haben Union und FDP gewählt, weil sie hofften, dass dieses Bündnis eine vernünftige Steuerpolitik machen wird. Die fordern jetzt zu Recht ein Signal, dass an der Steuerschraube nicht weitergedreht wird.“
Ich ging noch einen Schritt weiter und erklärte dem „Handelsblatt“, dass andere Sektoren der Politik wie die Sozialpolitik nicht sakrosankt bleiben dürften. „Beispielsweise müsste in einer Gesundheitsstrukturreform der Katalog der gesetzlichen Leistungen auf eine Grundversorgung zurückgeführt werden. Versicherungsfremde Leistungen wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall dürfen nicht länger über Beiträge finanziert werden.“ Ich kritisierte zudem, dass in der aktiven Arbeitsmarktpolitik laut Koalitionsvertrag längst alle bestehenden Instrumente überprüft und zusammengefasst werden sollten, bisher aber nichts passiert wäre: „Dabei lassen sich in diesem Bereich Milliarden sparen. Gleiches gilt für die Familienpolitik. So hat sich das Elterngeld als völlig ineffizientes Instrument erwiesen. Solche Geldgeschenke gehören gestrichen“, sagte ich dem Blatt.
Als sich fünf Wochen vor der Landtagswahl eine deutliche Wahlniederlage für die CDU abzeichnete, empfahl ich der Kanzlerin öffentlich, die wichtigsten mittelständischen Unternehmen in NRW zu besuchen. „Mit einer solchen Reise würde die Kanzlerin zeigen, dass sie nicht im Elfenbeinturm regiert, sondern genau weiß, wer sich in der Krise wirklich bewährt hat: Der Mittelstand.“ Es sei nicht hinnehmbar, dass Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann zu Bundeskanzlerin Merkel durchgestellt werde, wenn er im Kanzleramt anrufe, während wichtige mittelständische Unternehmer allenfalls beim Abteilungsleiter landeten. „Diese Vorgehensweise spricht von einer völlig falschen Sichtweise in der Politik“, sagte ich.
Zudem kritisierte ich im „Hamburger Abendblatt“, die Bundesregierung gefährde mit ihrem „politischen Aktionismus“ den Erfolg von Jürgen Rüttgers bei der Landtagswahl. „Mit der Einführung von weiteren Mindestlöhnen wie im Pflegebereich oder staatlichen Preisvorschriften auf dem Pharmamarkt wird die Regierung ihre bürgerlichen Wähler in Nordrhein-Westfalen bestimmt nicht erreichen.“ Zu diesem Aktionismus rechnete ich auch die damals beschlossene Bankenabgabe. „Für das bürgerliche Lager ist die Wahl nur in der Mitte zu gewinnen. Links davon ist für Union und Liberale nichts zu holen. Angela Merkel und ihre Minister sind also in die falsche Richtung losgeprescht.“
Diese Äußerungen führten zu heftigen Reaktionen bei einigen Bundestagsabgeordneten. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Michael Fuchs, sagte, „Hilfreich wäre es, wenn wir uns einmal vertragen und 35 Tage lang den Mund halten.“ Das Gegenteil war jedoch richtig: Die schlechten Umfragewerte hatten ihren Grund darin, dass die CDU ihre Mitglieder nicht mobilisieren konnte – nur wenige kamen zum Wahlkampfauftakt. In permanenten Sitzungen mit Funktionären aus den Bezirken und Kreisverbänden suchte man nach Lösungen – und war ratlos. Die Partei verharrte im Stimmungstief und wollte die wirklichen Gründe nicht wahrhaben.
Schreiben an die Bundeskanzlerin
Um mir nicht nachsagen zu lassen, dass wir auf die zu erwartende Niederlage in NRW nicht hingewiesen hätten, teilte ich der Bundeskanzlerin und ihrem Generalsekretär Herrmann Gröhe mit Schreiben vom 14. April 2010 meine grundsätzlichen Bedenken zu der eingeschlagenen Strategie mit. Die wesentlichen Passagen darin lauteten:
„Die MIT hat seinerzeit den Koalitionsvertrag ausdrücklich begrüßt. Dessen oberstes wirtschaftspolitisches Ziel ist es, „dass Bürger und Unternehmen ihre produktiven Kräfte entfalten können“. Wir unterstützen ausdrücklich, dass dies durch eine „auf Stetigkeit, Solidität und Verlässlichkeit ausgerichtete Wirtschaftspolitik“ erreicht werden soll, die auf drei zentralen Ansätzen beruht:
1. Stärkung der Angebotskräfte durch Steuersenkung, Bürokratieabbau und Förderung von Bildung, Forschung und Neuen Technologien.
2. Nachhaltiger Kurs der Sparsamkeit, der Transparenz und der verlässlichen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.
3. Sicherung der Beschäftigung und der Unternehmensfinanzierung, wobei mit einer „Ausstiegs-Strategie“ begonnen werden soll.
Die MIT erkennt an, dass mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz ein erster Schritt zur Umsetzung dieser Wirtschaftspolitik gemacht worden ist. Wir sehen allerdings mit Sorge, wie die Bundesregierung den obigen Kurs – aus welchen Gründen auch immer – nicht konsequent weiterverfolgt oder sogar eine in Teilen entgegengesetzte Politik betreibt.
Unsere Sorge ergibt sich insbesondere aus den folgenden Sachverhalten:
Das Thema Steuerreform ist angesichts des Widerstands der Opposition und der Bedenken starker Kräfte in der Union nahezu „politisch verbrannt“. Vorherrschend ist die fiskalische Betrachtungsweise, wonach Steuersenkungen angesichts der öffentlichen Kassenlage unverantwortlich sind. Damit ist die Grundentscheidung im Koalitionsvertrag, „Wir verstehen Steuerpolitik als Wachstumspolitik“ weitgehend unglaubwürdig geworden. Die Bundesregierung würde dies bestätigen, wenn sie Steuersenkungen auf den Sankt Nimmerleinstag verschiebt. Wer mit Steuerpolitik Wachstum fördern will, muss dies unverzüglich und nachhaltig tun.
Besonders schwerwiegend erscheint uns, dass die neue Bundesregierung für 2010 nicht mit einem Sparhaushalt, sondern mit einer Rekordverschuldung von über 80 Mrd. Euro gestartet ist. Die Rechtfertigung dieses Defizits mit der konjunkturpolitisch unsicheren Lage übersieht, dass es sich dabei in erster Linie um einen strukturbedingten Ausgabenüberhang handelt. In wirtschaftspolitischer Hinsicht ist besonders negativ, dass die Bundesregierung offen lässt, welchen „Kurs der Sparsamkeit und der verlässlichen Konsolidierung“ sie künftig fahren will. Planungssicherheit als unerlässliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum wird dadurch nicht geschaffen.
Wir sind auch davon überzeugt, dass „Beschäftigung sichern“ mehr erfordert als die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung. Was wir brauchen, ist vor allem eine nachhaltige Regelung für den Niedriglohnbereich. Der Koalitionsvertrag sieht hier unter anderem vor, die gesetzliche Regelung zum Mindestlohn bis Oktober 2011 zu evaluieren, um zu überprüfen, ob sie Arbeitsplätze gefährdet oder neuen Beschäftigungsverhältnissen entgegensteht. Die politische Absicht des Koalitionsvertrages wird unterlaufen, wenn auf der Grundlage der bestehenden Regelung vorab weitere Mindestlöhne beschlossen werden, wie dies für den Pflegebereich bereits geschehen ist.
Die Politik könnte einen wesentlichen Beitrag für die Beschäftigungssicherung leisten, wenn die Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten „weitgehend entkoppelt“ würden, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht. Insoweit verdient der Gesundheitsminister politische Unterstützung, nicht aber bei seinem Vorhaben, die forschenden Arzneimittelunternehmen mit Preisdiktaten zu überziehen. Die Regierung sollte auch in der Gesundheitspolitik zum „Wettbewerb als ordnendes Prinzip“ zurückkehren statt mit planwirtschaftlichen Methoden Kostendämpfung zu betreiben.
Wir sind der festen Überzeugung, dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Verantwortung zwei Seiten einer Medaille sind und in eine ausgewogene Bilanz gebracht werden müssen. Diese Voraussetzung sehen wir durch den Koalitionsvertrag erfüllt.
Wir betrachten allerdings mit großer Sorge, dass dieses Gleichgewicht bei der politisch-praktischen Umsetzung des Koalitionsvertrages schon nach wenigen Monaten in Gefahr gerät. Hier öffnet sich eine zunehmend größere Glaubwürdigkeitslücke zwischen politischer Absichtsbekundung und tatsächlichen Regierungshandeln. Das spüren die Menschen, und es schlägt sich auch in der Demoskopie nieder.
Zu leugnen oder die Augen davor zu verschließen, dass dieser - dem Koalitionsvertrag in wichtigen wirtschaftlichen Fragen diametral entgegenstehende - Kurs der Bundesregierung die Siegchancen von CDU und FDP in NRW beeinträchtigt, wäre leichtfertig und leichtsinnig.
Dies sind der Grund und der Anlass für dieses Schreiben.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Josef Schlarmann“
Der Verlust der politischen Gestaltungsmacht
Angela Merkel hatte angeordnet, dass vor der NRW-Wahl politische Debatten zu vermeiden waren, um die Wahlaussichten für Jürgen Rüttgers nicht zu gefährden. Doch je näher der Wahltag kam, desto geringer wurden die Aussichten für einen Sieg der CDU. Als die Stimmen ausgezählt waren, hatte die CDU mehr als 10 Prozentpunkte Wählerstimmen verloren. Damit war die Periode einer schwarz-gelben Regierung in NRW schon wieder zu Ende und Jürgen Rüttgers ging in den politischen Ruhestand. An seine Stelle wählte eine Koalition aus SPD und Grünen Hannelore Kraft (SPD) zur neuen Ministerpräsidentin.
Mit dem Verlust der Wahl in NRW war für die schwarz-gelbe Bundesregierung die Mehrheit im Bundesrat verloren. Bei allen größeren Vorhaben benötigte Angela Merkel zukünftig die Zustimmung der von der Opposition regierten Länder. Faktisch hatte Deutschland wieder eine große Koalition. Damit war das „Zeitfenster“ für die Umsetzung der im schwarz-gelben Koalitionsvertrag vereinbarten Reformprojekte wieder geschlossen. Insofern hatte die CDU in NRW eine doppelte Niederlage erlitten.
Führende Politiker innerhalb der Union waren sich schnell einig, dass die Ursachen für diese katastrophale Wahlniederlage vor allem in Berlin zu suchen waren. Christian Wulff (CDU) forderte von der Bundesregierung „eine überzeugende Politik aus einem Guss“. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) machte die Steuerpolitik für das schwindende Wählervertrauen mitverantwortlich. Demgegenüber betonten Vertreter des Wirtschaftsflügels der Union, dass die Verluste in NRW auch auf die fortschreitende Sozialdemokratisierung innerhalb der Union zurückzuführen wären. Jürgen Rüttgers hatte sich selbst gern als der maßgebliche „Arbeiterführer“ in NRW bezeichnet. „Die Union wird Wahlen nur mit einer Rückbesinnung auf ihre Wirtschaftskompetenz gewinnen können“, sagte demgegenüber Hans Michelbach, Vorsitzender der CSU-Mittelstands-Union. Gegenüber der Financial Times Deutschland nannte ich für die Niederlage drei Gründe: Erstens den von Merkel angeordnete politische Stillstand vor der Wahl, um der Opposition keine Reizthemen zu liefern. Zweitens den Richtungsstreit innerhalb der Koalition, insbesondere in der Steuerfrage. Und drittens das Nachgeben gegenüber den Weichwährungsländern in der Griechenlandkrise.
Angela Merkel sah die Verantwortung ebenfalls bei der Bundesregierung. In der ersten Vorstandssitzung nach der Wahl sagte sie: „Wir haben in den ersten Monaten der Regierung in Nordrhein-Westfalen nicht den nötigen Rückenwind gegeben – im Gegenteil: sogar Gegenwind.“ Jürgen Rüttgers saß in diesem Moment neben ihr und nickte. Beide sahen die Schuld aber nicht bei sich, sondern beim Koalitionspartner FDP. Sie waren sich einig, dass die CDU im Wahlkampf zu wenig „soziale Wärme“ gezeigt habe. Die wirtschaftsliberalen Themen hätten dominiert.
Und dann kam der Clou: Angela Merkel teilte den verblüfften Vorstandsmitgliedern mit, dass es in der laufenden Legislaturperiode keine große Steuerentlastung geben würde. Basta! Guido Westerwelle (FDP) habe sich damit einverstanden erklärt: „Wir müssen diesen Warnschuss der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen“, habe er im Hinblick auf die NRW-Wahl gesagt. Die Vorstandsmitglieder nahmen diese überraschende Kehrtwende in der Steuerfrage ohne Widerspruch oder sogar zustimmend zur Kenntnis. Ich war der Einzige, der dieser Entscheidung widersprach. Da ich aber von niemandem unterstützt wurde, musste ich resignierend feststellen: „Ich bin offenbar der letzte Mohikaner an der Steuerfront.“
In der Rheinischen Post gab ich anschließend zu Protokoll: „Die Gefahr besteht, dass das schwarz-gelbe Projekt im Bund nach nur sieben Monaten schon wieder vor dem Ende steht. Wir haben de facto eine große Koalition. Nach dem Wahlergebnis in NRW ist eine wachstums- und reformorientierte Politik so gut wie tot. Das hat auch Kanzlerin Merkel mitzuverantworten, die in den vergangenen Monaten kein schlüssiges Konzept für wirtschaftliches Wachstum und Haushaltskonsolidierung vorgelegt hat.“
Die Griechenlandkrise
Im April 2010 drängte die Griechenlandkrise alle anderen Themen in den Hintergrund. Griechenland war das erste Opfer der allgemeinen Staatsschuldenkrise, die den Süden Europas nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 erfasst hatte. Der Grund war die im Verhältnis zur Wirtschaftskraft viel zu hohe Verschuldung des Landes, in dem die Finanzmärkte ein Ausfallrisiko sahen, das mit steigenden Zinsen vergütet werden musste.
Zunächst waren die europäischen Partner der Meinung, dass Griechenland dieses Finanzierungsproblem selbst lösen musste. Denn der Maastricht-Vertrag schließt die Mithaftung für die Kredite von Euro-Staaten generell aus (Beistandsverbot). Hilfen für Griechenland waren deshalb anfangs kein Thema. Wolfgang Schäuble erklärte der BILD: „Die Griechen haben jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Wir Deutsche können nicht für Griechenlands Probleme zahlen.“ Angela Merkel weigerte sich anfangs ebenfalls, Griechenland finanzielle Hilfe in Aussicht zu stellen. Griechenland müsste durch striktes Sparen und Reformen selbst aus der Krise herausfinden.
Die Märkte glaubten solchen Erklärungen aber nicht. Einerseits erhöhten sie die Risikoaufschläge für griechische Anleihen, und andererseits gingen die Akteure auf den Finanzmärkten davon aus, dass die Euro-Gruppe „niemals die Insolvenz eines seiner Verwandten zulassen werde.“ Deshalb gelang es der griechischen Regierung noch Anfang März 2010, eine Anleihe über fünf Milliarden Euro bei Investoren unterzubringen. Die Finanzmärkte erwarteten, dass die Euroländer den Griechen im Notfall beistehen würden.
Um dies abzusichern, besuchte der griechische Premierminister Giorgos Papandreou Angela Merkel, die die Hilfe für Griechenland zur Chefsache gemacht hatte. Nach dem Gespräch verkündete der griechische Premier: „Griechenland will keinen Cent von deutschen Steuerzahlern“, und Angela Merkel bekräftigte: „Es … geht nicht um Hilfszusagen …, sondern um ein gutes Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland“. Hier verbog sie die Wahrheit, weil sie dem griechischen Premier Hilfen bereits zugesagt hatte. Angela Merkel hatte ihre Meinung geändert, weil sie vermeiden wollte, für das Scheitern des Euro verantwortlich gemacht zu werden. Sie fürchtete aber auch die bevorstehende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, weil den Wählern Hilfen für Griechenland nur schwer zu vermitteln waren. Deshalb sagte sie nicht die Wahrheit.
Als ruchbar wurde, dass Griechenland finanzielle Hilfen bekommen sollte, gab es von verschiedener Seite Proteste. Der FDP-Finanzexperte Frank Schäffler (MdB) sagte in der BILD: „Die Kanzlerin darf keinen Rechtsbruch begehen, darf Griechenland keine Hilfe versprechen. Der Griechische Staat muss sich radikal von Beteiligungen an Firmen trennen und auch Grundbesitz, z.B. unbewohnte Inseln, verkaufen.“ Ich sagte in einer Pressemitteilung: „Ein Bankrotteur muss alles, was er hat, zu Geld machen – um seine Gläubiger zu bedienen. Griechenland besitzt Gebäude, Firmen und bewohnte Inseln, die für die Schuldentilgung eingesetzt werden können.“
Die Forderung, Griechenland solle zur Schuldentilgung auch seine Inseln verkaufen, waren in der nationalen und internationalen Presse der große Aufmacher. Neben viel Zustimmung gab es aber auch Kritik: Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) meinte, man dürfe Euro-Länder nicht so „demütigen“. Offensichtlich wollte er Staatsschulden anders behandeln als Privatschulden. Das im Maastricht-Vertrag verankerte Beistandsverbot war ihm offensichtlich nicht bekannt.
Ende April 2010 platzte dann die Bombe, als das Europäische Amt für Statistik (Eurostat) Griechenlands Haushaltsdefizit für 2009 auf 13,6 Prozent schätzte. Zeitgleich setzte Standard & Poor´s das Rating für griechische Staatsanleihen um drei Stufen auf BB- herab. Daraufhin brachen die Kurse griechischer Staatsanleihen ein. Spanien und Portugal folgten. Der Krisenfall war eingetreten.
„Wir hatten Angst, dass Griechenland Lehman II werden könnte“, beschrieb Jörg Asmussen, damals Staatssekretär im Finanzministerium, die Stimmung in der Bundesregierung.
In aller Eile traten die Euro-Finanzminister am 2. Mai 2010 in Brüssel zusammen und beschlossen ein umfangreiches Hilfspaket für Griechenland. Es bestand aus Finanzhilfen für drei Jahre in Höhe von 110 Mrd. Euro, wovon die Euro-Länder 80 Mrd. und der Internationale Währungsfonds (IWF) 30 Mrd. übernahmen. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, die zuvor jegliche Hilfe für Griechenland ausgeschlossen hatten, stimmten zu. Der Deutsche Bundestag beschloss das Hilfspaket am 7. Mai 2010. Die Bundeskanzlerin hatte mit eindringlichen Worten geworben: „Bei der Entscheidung geht es um den Erhalt der Währungsunion.“ Diese Empfehlung war eine Verletzung des im Maastricht-Vertrag festgelegten Ordnungsprinzips des „No-bail-out“ und der erste Schritt zur Umwandlung der Europäischen Union in eine Transferunion.
Der Europäische Rettungsschirm
Die Wahlniederlage in NRW und der anschließende Kurswechsel beim Steuerthema überschnitten sich mit der Hilfe für Griechenland und die Schaffung eines „Europäischen Rettungsschirms“ für notleidende Euro-Staaten.
Während der Bundestag der Griechenlandhilfe in einem Eilverfahren am 7. Mai 2010 zustimmte, sorgte ein dramatischer Kurssturz an den Börsen für weltweite Unruhe. Der Dow Jones hatte am Tag zuvor 1000 Punkte verloren. Der Geldmarkt trocknete aus, weil die Banken sich untereinander nicht mehr vertrauten. Der Handel mit Staatsanleihen versiegte. Nicht nur für griechische, sondern auch für portugiesische und spanische Papiere stiegen die Risikoaufschläge. Erinnerungen an die Panik nach der Lehman-Pleite wurden wach.
In dieser Situation reisten die Regierungs- und Staatschefs der Euroländer am 7. Mai 2010 zu einem Sondergipfel nach Brüssel, um über die neue Lage zu beraten. Allen war klar, dass diesmal ein Hilfspaket wie für Griechenland nicht ausreichen würde. Angela Merkel hatte ursprünglich darum gebeten, das Gipfeltreffen auf den Montag nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu verlegen, weil 80 Prozent der Deutschen gegen Hilfen für Krisenländer waren. Doch die sich zuspitzende Lage in den Peripherieländern vertrug keinen Aufschub.
Zur Vorbereitung der anstehenden Verhandlungen hatte der französische Präsident Nicolas Sarkosy in Brüssel intensive Vorgespräche mit den Regierungschefs von Italien, Spanien, Griechenland und Portugal geführt, um eine gemeinsame Verhandlungslinie der Südländer festzulegen. Ihre Ziele waren die Abschaffung des im Maastricht Vertrag vereinbarten Beistandsverbots („No-bail-out-Regel“) und des Verbots des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB). An diesen Vorbesprechungen war von deutscher Seite niemand beteiligt. Angela Merkel wusste deshalb nicht, was auf sie zukommen würde.
Die offiziellen Verhandlungen begannen mit einem „emotionalen“ Vortrag des damaligen EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet, der an Hand von Schautafeln die aktuellen Zinsentwicklungen und Risikoaufschläge erläuterte. Die Lage verglich er mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Zur Arbeit der EZB sagte er: „Wir haben erledigt, was zu erledigen war. Sie sind es, die Mitgliedstaaten, die versagt haben, ihre Pflichten zu erfüllen!“ Nach dem Vortrag hatten die Staats- und Regierungschefs den Eindruck, dass nicht nur Griechenland zu retten war, sondern angeblich die gesamte Währungsunion. Im Verhandlungsraum verbreitete sich ein Gefühl der Rat- und Hilflosigkeit. Es wuchs die Furcht, dass Spekulanten den Europaraum sprengen könnten.
„Die Märkte hocken wie ein unsichtbares Monster in der Zimmerecke“, beschrieb die FAS die Stimmungslage bei diesem Sondergipfel. Davon ließ sich auch Angela Merkel anstecken. Als der Präsident Zyperns zur Ruhe mahnte und eine Denkpause vorschlug, schnitt ihm Angela Merkel das Wort ab. „Wir haben keine paar Tage. Wir müssen zeigen, was wir vorhaben, bevor die Märkte am Montag öffnen.“ Dann fügte sie hinzu: „Wir haben nur einen Schuss.“
Mit der Drohung, „Die Europäische Union könnte explodieren“, befeuerte Nicolas Sarkosy die allgemeine Erregung und legte dann seine Forderung auf den Tisch: Der Europäische Rat sollte einen permanenten Rettungsmechanismus beschließen, der Gelder an Krisenländer verteilen kann, „ohne dass irgendjemand von uns zu Hause um parlamentarische Zustimmung bitten muss“. Das war die Aufforderung an die Runde, die „No-bail-out-Klausel“ einfach außer Kraft zu setzen. Widerspruch gegen diesen Vorschlag gab es nicht. Auch Angela Merkel stimmte zu, „vorübergehend einen gemeinsamen Finanztopf einzurichten“, bestand aber auf begrenzten Haftungsanteilen. Die Details sollten den Finanzministern überlassen bleiben.
Danach startete Nicolas Sarkosy seinen Angriff auf die Unabhängigkeit der Zentralbank (EZB). In den Vorbesprechungen mit den Chefs der Südländer hatte er vorgeschlagen, die Bank müsste griechische, spanische und portugiesische Staatsanleihen ankaufen, um den Kurs dieser Papiere zu stützen. Notfalls müsste sie dazu gezwungen werden. Außerhalb des Verhandlungsraums würde er so etwas nie sagen, aber die EZB müsste wie die amerikanische Notenbank und die Bank von England auch Staatsanleihen aufkaufen. Nur so würden die Risikozuschläge sinken. Der Portugiese José Sócrates und der Spanier Rodrigues Zapatero unterstützten ihn bei dieser Forderung. Der Italiener Silvio Berlusconi ergänzte: „Zumindest auf dem Zweitmarkt sollte die EZB Anleihen kaufen.“
Mit solchen Forderungen brachten die Staatschefs den EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet, der die Unabhängigkeit der Zentralbank im Auge haben musste, in die Bredouille. Keinesfalls durfte der Eindruck entstehen, dass die EZB unter politischem Druck einknickte. Er sei „nicht gegen den Kauf von Staatsanleihen, aber wir brauchen und werden nicht um ihre Erlaubnis fragen“, rief er deshalb in die Runde der Regierungschefs. Darin wurde er von Angela Merkel unterstützt: „Wir haben völliges Vertrauen, dass sie tun werden, was sie tun müssen.“ Jean-Claude Trichet hatte verstanden: Die Bundesregierung erwartete von der EZB, Staatsanleihen von Krisenstaaten anzukaufen, und würde solchen Käufen nicht widersprechen. Damit hatte die EZB freie Bahn.
Jean-Claude Trichet handelte, wie es Nicolas Sarkosy gefordert und Angela Merkel erwartet hatte. Am Montag, dem 10. Mai 2010, einen Tag nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, gab er das nächste Ankaufsprogramm der EZB bekannt. Flankiert wurde dieses Programm durch den auf drei Jahre befristeten Euro-Rettungsfonds mit einem Volumen von 500 Mrd. Euro, auf den sich die EU-Finanzminister einen Tag zuvor geeinigt hatten. Es war genau die Kombination von Hilfsmaßnahmen der EZB und Europäischen Union (EU), wie sie in den folgenden Jahren immer wieder genutzt wurde, um die Finanzmärkte zu beruhigen.
Der Öffentlichkeit erklärte Nicolas Sarkosy später, die in der Sitzung gefassten Beschlüsse gingen „zu 85 Prozent auf französische Vorstellungen zurück“. Über die deutsche Verhandlungsführung über das Volumen des Euro-Rettungsfonds in der entscheidenden Sitzungsnacht berichtete ein nicht-deutscher Sherpa (Beamter) später: „Wir hatten uns gedacht, 200 Mrd. Euro werden wir brauchen. Und haben kalkuliert, dass die Deutschen von der vorgeschlagenen Summe sicher die Hälfte herunterräumen werden. Dies befürchtend und zugleich wissend, dass nur 100 Mrd. Euro niemals genug sein werden, haben wir die Summe auf 400 Mrd. Euro verdoppelt. Dann haben wir aus einem Grund noch 10 Prozent draufgeschlagen, um zusammen mit den 60 Mrd. Euro aus dem Fonds der EU-Kommission auf insgesamt 500 Mrd. Euro zu kommen. Und dann waren wir verblüfft, dass die Deutschen nichts abgeräumt haben. So kamen die 440 Mrd. Euro für den EFSF zusammen.“
Am 21. Mai 2010 wurde der Rettungsschirm EFSF im Deutschen Bundestag beraten und beschlossen. Wieder gab es eine Regierungserklärung von Angela Merkel: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die Debatte um den Rettungsschirm nutzten führende Politiker zu Verbalattacken auf Banken, Hedgefonds und Spekulanten als die angeblichen Verursacher der Krise. Auch Angela Merkel stimmte in diesen Chor mit ein: „Es ist perfide, dass zunächst die Banken die Weltwirtschaft in einen tiefen Abgrund gezogen haben und nun gegen die selbst verursachten Schulden der Staaten spekulieren.“ Sie forderte: „Die Politik muss das Primat über die Märkte wiederbekommen.“ Angela Merkel setzte sich damit an die Spitze einer Bewegung, die in der Finanz- und Wirtschaftskrise die Chance erkannte, die Funktionsweise von Märkten und insbesondere die von Finanzmärkten generell infrage zu stellen.
Die im Zusammenhang mit dem Europäischen Rettungsschirm von Angela Merkel getroffenen Entscheidungen haben das Vertrauen in die europäische Politik nachhaltig belastet. Mit der Griechenlandhilfe und der Einrichtung des Rettungsschirms haben die europäischen Regierungschefs kollektiv europäisches Recht verletzt, so wie es im Maastricht Vertrag vereinbart worden ist. Im Unterschied zur Bundesregierung hat die französische Außenministerin Christine Lagarde dies auch freimütig eingeräumt: Der Süddeutschen Zeitung sagte sie: „Wir sind über die bestehenden Verträge hinausgegangen.“
Mit ihrer Rettungspolitik hat sich Angela Merkel zudem über Zusagen hinweggesetzt, die die Kohl-Regierung der deutschen Bevölkerung bei Einführung des Euro gemacht hat. „Deutschland muss nicht für die Schulden anderer Länder aufkommen. Der Maastrichter Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die Europäische Union oder die anderen EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedstaates haften“, hieß es bei Einführung des Euro auf einem Wahlplakat der CDU. Politischer Schaden für die CDU ist insbesondere auch dadurch entstanden, dass Angela Merkel ihre Rettungspolitik als „alternativlos“ darstellte. Damit hat sie der „Alternative für Deutschland (AfD)“, die inzwischen zu einer ernsten Bedrohung für die Union geworden ist, den Boden bereitet.
Die Führungskrise
Die Wahlniederlage in NRW, der anschließende Abschied von Steuersenkungen, die Hilfe für Griechenland und die Einrichtung eines Europäischen Rettungsschirms setzten der schwarz-gelben Regierung erheblich zu. Ihr Ansehen war auf einem Tiefpunkt angelangt. Hinzu kam der Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler aus Gründen, die mit dem europäischen Rettungsschirm in Verbindung gebracht wurden. Außerdem gab Roland Koch, der für Angela Merkel eine wichtige Stütze war, sein Amt als hessischer Ministerpräsident auf, um in die Wirtschaft zu gehen. In dieser Situation schrieb DER SPIEGEL: „Die Kanzlerin befindet sich … auf dem Tiefpunkt. Parteifreunde und Liberale fordern einen Kurswechsel und Führungsstärke. Angela Merkel mag sich aber nicht ändern. Sie setzt auf ein informelles Bündnis mit der SPD.“
In aller Öffentlichkeit wurden die Führungsqualitäten der Bundeskanzlerin in Frage gestellt. Es sei ein Fehler gewesen, vor der NRW-Wahl „nicht zu entscheiden und nicht zu handeln“, kritisierte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer. „Wir brauchen jetzt einen Neustart“, forderte Roland Koch. Stefan Mappus, Ministerpräsident in Baden-Württemberg, erklärte, die Union müsse den Mut haben, auch mal für unpopuläre Projekte zu kämpfen, etwa für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken. Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich rief der Kanzlerin zu: „Frau Merkel, übernehmen Sie die Initiative.“ Ich sagte provokativ im Hamburger Abendblatt, dass eine gute Regierungsarbeit sich durch klare Ziele, einen starken Umsetzungswillen und überzeugte Mitarbeiter auszeichnet. In Bezug auf die Bundeskanzlerin müsse man leider „Mängel auf allen drei Ebenen“ feststellen.
Bemerkenswert war, wie sich Angela Merkel zu dieser Debatte verhielt. Dem SPIEGEL erklärte sie, es gebe eben unterschiedliche Charaktere in der Politik. Eine Kategorie sei „der Tatkräftige, der Mutige, der Schnelle“. Es war klar, dass sie sich nicht zu dieser Kategorie rechnete. Jedoch gebe es, fügte sie hinzu, auch „die Zögernde, Zaudernde, Abwartende“. Jeder wusste, dass sie sich damit selbst meinte. Natürlich verband sie damit auch politisches Kalkül: Mit einem solchen Image konnte sie sich alle Optionen offenhalten.
In dieser Situation bat der SPIEGEL um ein Interview, um meine Meinung zum Führungsstil der Bundeskanzlerin zu erfahren. Das Interview wurde unter dem Titel „Der Abstieg hat begonnen“ veröffentlicht und verursachte erheblichen Wirbel. Ich warf Angela Merkel vor, in einem kleinen von ihr ausgewähltem Kreis zentrale Grundsatzentscheidungen zu treffen und die Partei erst im Nachhinein zu informieren. Das sei in einer Parteiendemokratie bedenklich. Denn die Verfassung weise den Parteien die Aufgabe zu, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Unter Merkel werde der Einfluss der Partei jedoch marginalisiert.
Zu meiner Mitwirkung im Parteivorstand sagte ich, dass meine Beiträge nach meiner Wahrnehmung keinerlei Einfluss auf die Entscheidungsfindung hätten. Man müsse sich daran gewöhnen, dass Frau Merkel einen zentralistischen Führungsstil pflege. Auch die Wahlkampfstrategie sei inzwischen komplett auf die Person Merkel abgestellt. Für eine solche Strategie brauche man weder ein Programm noch eine aktive Partei.
Bezüglich der CDU-Programmatik kritisierte ich, dass diese unter Angela Merkel wesentlich enger geworden sei. Die harten Themen, vor allem wirtschafts- und steuerpolitische Themen, stünden nicht mehr im Mittelpunkt. Das treffe vor allem bürgerlich-liberale Wähler und die Mittelständler, die fragten: Wo ist eigentlich der wirtschaftliche Sachverstand der CDU?
Auf die Frage, ob die Union noch Volkspartei sei, antwortete ich: Volkspartei sei man so lange, wie man von der breiten gesellschaftlichen Mitte akzeptiert werde – hinsichtlich des Programms und des Führungspersonals. Und wenn man basisorientierte Politik mache. Dann habe man das Recht, sich Volkspartei zu nennen. Die CDU sei dabei, diesen Status zu verlieren.
Auf den Vorwurf, ich sei in Interviews mutig, sage der Kanzlerin meine Kritik aber nicht ins Gesicht, erwiderte ich, dass ich genau das mache, direkt und in den Vorstandssitzungen der CDU. Aber Frau Merkel ignoriere solche Kritik. Und dann gebe es die Anpassungstaktiker im Vorstand, die die Vorsitzende für alles lobten. So laufe das in der CDU.
Eine solche Darstellung konnte die Parteiführung natürlich nicht unwidersprochen lassen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier, wurde beauftragt, auf meine Behauptungen in einem nachfolgenden SPIEGEL-Interview zu antworten. In der Ära von Helmut Kohl gehörte Altmaier zu den Außenseitern der Partei – unter Angela Merkel wurde er einer ihrer engsten Berater. Als sog. „Modernisierer“ war seit den neunziger Jahren Mitglied der Pizza-Connection, deren Ziel es war, die Union für grüne Themen zu öffnen.
Altmaier rechtfertigte die Politik der Bundeskanzlerin damit, dass die Partei Antworten auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse geben müsste. Die Zeit der Lagerwahlkämpfe wäre mit dem Ende des Kommunismus vorbei. Die Partei müsste sich modernisieren und gegenüber neuen Milieus offen sein. Vor allem müsste die Partei großstädtischer und bunter werden. Dazu gehöre auch, Wähler zu gewinnen, die derzeit eher Grüne oder SPD wählten. Er warnte vor einem konservativen Mittelalter.
Mit diesem Interview gestand Altmaier ein, dass es innerhalb der Union einen grundsätzlichen Richtungsstreit gab, wobei er Merkel zu den „Modernisierern“ rechnete. Im Kern ging es dabei jedoch um eine Linksverschiebung der Union und die Anpassung an den grünen Zeitgeist, wie sie auch in der SPD stattfanden. Dass hierbei für die Union nichts zu holen war, zeigten schon die damaligen Umfragewerte für die Union von unter 30 Prozent. Ich warnte deshalb: „Schon der Volksmund weiß: Wer den Zeitgeist heiratet, kann sehr schnell Witwer werden.“ Statt einer solchen Modernisierung forderte ich eine moderne Politik, die den Fortschritt mit der Tradition klug verbindet. „Nur dann können Stammwähler gehalten und neue hinzugenommen werden.“