15 Jahre Merkel´sche Wirtschaftspolitik
(Teil 2)
10. Unrealistische IndustriestrategieDie vom Bundeswirtschaftsminister Altmaier zu Jahresbeginn 2019 vorgelegte „Nationale Industriestrategie 2030“ sieht vor, dass mit staatlicher Hilfe „nationale und europäische Champions“ aufgebaut werden sollen, um die deutsche Industrie vor dem chinesischen Expansionsstreben zu schützen. Hierzu sollen das Außenhandelsgesetz verschärft und die Möglichkeiten von Staatsbeteiligungen erweitert werden. Auch ganze Schlüsselindustrien will der Minister notfalls mit Schutzmaßnahmen dauerhaft im Land halten. Den Industrieanteil an der gesamten Wirtschaft, der in Deutschland mit 23 Prozent bereits hoch ist, will Altmaier auf 25 Prozent bringen. Um wirtschaftliche Champions hervorzubringen, erwägt der CDU-Politiker insbesondere die Aufweichung des Wettbewerbsrechts und der EU-Beihilferegeln.
Der Wirtschaftsminister begründete seine Vorschläge damit, dass Deutschland und auch die EU anderenfalls Gefahr liefen, im Wettbewerb mit China und den USA abgehängt zu werden. Die deutsche Politik müsse deshalb ebenso wie die chinesische Führung stärker mit Planung und aktiver Industriepolitik ins Wirtschaftsgeschehen eingreifen. Zustimmung fand Altmaier bei seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire. Auch die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer nannte die von Altmaier angestoßenen Debatte „wichtig und notwendig“: „Angesichts des zunehmenden Systemwettbewerbs mit den Vereinigten Staaten (?) und China ist es zwingend notwendig, in Deutschland, aber vor allem auch in Europa über die Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit zu diskutieren und dabei auch strategische Ansätze nicht auszuschließen.“
Die Bundeskanzlerin begründete den Vorschlag für eine nationale Industrie in ihrer Regierungserklärung zum EU-Gipfel damit, dass es keinen Sinn mache, wenn der Staat zwar viele Umweltvorschriften für die Autoindustrie mache, sich aber nicht um die Frage kümmere, wie Wertschöpfungsketten in Europa erhalten bleiben könnten. Hierzu schrieb der Ökonom Norbert F. Tonfall in einem Beitrag für „Cicero“: „Die Bundeskanzlerin scheint dabei nicht einen Gedanken an die Frage zu verschwenden, ob nicht gerade die überbordenden Umweltvorschriften für die Autoindustrie und ihre Energiepolitik mit Atomenergie- und Kohleausstieg eine nachhaltige Deindustrialisierung in Deutschland befördern, die sie und ihr Wirtschaftsminister durch ihre Nationale Industriestrategie 2030 andererseits verhindern wollen. Der angemaßte Primat der Politik in einem Sachbereich scheint den Primat der Politik in anderen Sachbereichen nach sich zu ziehen. Frei nach Ludwig von Mises könnte man von einer sektorübergreifenden Interventionsspirale sprechen.“
Auch in der deutschen Wirtschaft stieß Altmaier mit seinen Vorschlägen auf allgemeine Ablehnung. Der BDI hielt nichts davon, das chinesische Modell zu kopieren. „Es wäre falsch, unser erfolgreiches Modell wegen dieser Konkurrenz zu verändern, deren langfristige Wirksamkeit noch unsicher ist.“ Die Entstehung nationaler oder europäischer digitaler Champions sei wünschenswert, sie sollten jedoch aus eigener Kraft wachsen. Eine Aufweichung des Wettbewerbsrechts, um Fusionen von Großunternehmen zu erleichtern, lehnte der BDI ab.
Auch Holger Bingmann, Präsident des Groß- und Außenhandelsverbandes (BGA), lehnte den Vorschlag ab. Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden die weit über tausend (meist unbekannten) mittelständischen Weltmarktführer, die der Aufmerksamkeit der Politik bedürften. „Meine feste Überzeugung ist, dass der Staat den Märkten und privaten Investoren bei der Auswahl wettbewerbsfähiger förderungswürdiger Sektoren oder gar Unternehmen nicht überlegen ist.“
Selbst der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums widersprach dem Minister in zentralen Punkten, weil in einer Marktwirtschaft nicht Politiker über die sektorale Entwicklung der Wirtschaft entscheiden, sondern Unternehmer und Verbraucher. Mit dem Ansatz, bestimmte Industriezweige oder Traditionsunternehmen „unter Artenschutz zu stellen“, werde der technologische Wandel nicht befördert, sondern blockiert, weil der Wettbewerbsdruck nachlässt, gab der Beirat zu bedenken.
Für falsch hält der Beirat auch das Argument von Altmaier, Deutschland müsse schon deshalb eine aktive Industriepolitik betreiben, weil andere Staaten dies auch tun. Das Beispiel USA tauge schon deshalb nicht, weil die technologischen Erfolge im Silicon Valley durch private Unternehmen und nicht durch staatliche Einmischung erzielt wurden. Das Beispiel China, wo Staat und Konzerne eng zusammenarbeiten, sei für Deutschland noch weniger ein Vorbild. „Diese Politik hat jedenfalls nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun“, stellte der Wissenschaftliche Beirat fest.
Als Gegenentwurf zu Altmaiers Plänen präsentierte der BDI ein Positionspapier mit dem Titel „Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert“. Darin werden Politikfelder benannt, bei denen aus Sicht der Wirtschaft dringender Handlungsbedarf besteht.
Nach Meinung des BDI gehört eine Senkung der Unternehmenssteuern ebenso dazu wie die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlages. Fast alle anderen Industrieländer hätten in den vergangenen Jahren ihre Steuern für Unternehmen gesenkt, so dass Deutschland inzwischen an der Spitze der Belastung stehe. Die gigantischen Probleme der Energiewende sind ein weiteres Thema, das die Wirtschaft umtreibt. Die hohen Strompreise und die abnehmende Versorgungssicherheit gefährden die deutsche Industrie. Der BDI fordert in der Energiepolitik mehr Marktwirtschaft statt immer neue Subventionen und staatliche Eingriffe.
Schließlich gehört auch die unzureichende Infrastrukturausstattung zu den Sorgenkindern der Wirtschaft. Dabei geht es nicht nur um die Bereitstellung von Finanzmitteln, sondern auch um die Frage, ob der Staat überhaupt noch in der Lage ist, größere Infrastrukturvorhaben zu realisieren.
Der BDA fordert eine große Sozialreformdebatte, um zu verhindern, dass die Politik immer neue soziale Wohltaten verteilt, ohne an die langfristige Finanzierbarkeit zu denken. „Das im Koalitionsvertrag vereinbarte richtige Ziel, die Beitragsbelastung zur Sozialversicherung auf unter 40 Prozent der Bruttolöhne zu begrenzen, kann langfristig nur mit wesentlichen Reformen eingehalten werden“, sagte BDA-Chef Ingo Kramer
Im Ergebnis halten BDI und BDA eine Rückbesinnung auf die Werte der Sozialen Marktwirtschaft für dringend erforderlich. Sie stellen gemeinsam fest, dass in der Regierungszeit von Angela Merkel die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch staatliche Gängelung und Umverteilung Schaden genommen hat. Der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats, Wolfgang Steiger, brachte es auf den Punkt: „Diese Politik läuft grundsätzlich in die falsche Richtung: Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, Klima-Planwirtschaft ohne Technologieoffenheit und zu viel Konsum heute statt Weichenstellungen und Investitionen in die Zukunft.“