Die EZB im Urteil von Jürgen Stark
Der Ökonom Jürgen Stark war von 2006 bis Ende 2011 Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB). Zuvor war er Vorstandsmitglied der Bundesbank und Staatssekretär im Bundesfinanzministerium.
Jürgen Stark war als überzeugter Zentralbanker immer Verfechter eines engen Mandats der Notenbank. Er ist 2011 als Chefvolkswirt zurückgetreten, weil er sah, dass die EZB unter ihrem Präsidenten Mario Draghi auf die falsche Bahn zu geraten drohte,. „Ich konnte die Entwicklung nicht aufhalten, wollte aber auch nicht Teil von ihr sein“, sagte er in der FAS vom 26. Juli 2020. „Heute muss ich feststellen: Das, was ich damals befürchtet haben, ist nicht nur eingetreten, es ist sogar noch schlimmer gekommen.“
Nach Meinung von Jürgen Stark ist die EZB mit ihrer Politik, überschuldete Staaten durch den Kauf von Staatsanleihen zu finanzieren, „selbst zu einer risikobehafteten Institution geworden“.
Hierzu weist er auf folgendes hin:
Die EZB hat ihre Bilanz inzwischen mit den Anleihekäufen auf etwa 50 Prozent der Wirtschaftsleistung des Euroraumes ausgedehnt. Damit hat sie sich laut Jürgen Stark, „in enorme Abhängigkeit von den Regierungen der Euro-Staaten begeben“. Sie kann nicht mehr aus diesen Anleiheprogrammen aussteigen, ohne dass die Anleihezinsen steigen, und dadurch eine neue Staatsschuldenkrise heraufbeschworen wird. „Im Grund genommen ist die EZB zur Mittäterin geworden, die Staaten mit verfehlter Finanz- und Wirtschaftspolitik das finanzielle Überleben erleichtert“, sagt Jürgen Stark bewusst hart.
Für Jürgen Stark handelt es sich bei dem systematischen Kauf von Staatsanleihen ökonomisch „um monetäre Staatsfinanzierung“, die der EZB verboten ist. Doch solche Bedenken nimmt niemand mehr ernst. Seit der Staatsschuldenkrise 2010 ist die EZB mit den Anleihekäufen immer mehr zu einer „politisierten Institution“ geworden, die sich von dem engen Mandat, das man ihr einmal gegeben hat, entfernt hat. Die politische Abhängigkeit manifestiert sich auch darin, dass zukünftig fünf ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister dem EZB-Rat angehören werden. Das gab es noch nie.
Hinsichtlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen hat Jürgen Stark Bedenken, wenn sich die EZB gegenüber nationalen Parlamenten oder Gerichten verantworten muss. „Das gefährdet zweifelsohne ihre Unabhängigkeit.“ Die EZB hat diese Unabhängigkeit nach Meinung von Jürgen Stark aber selbst dadurch infrage gestellt, dass sie Maßnahmen, „die auf die Unterstützung einzelner Länder abzielen, vor das Mandat der Preisstabilität gestellt“ hat.
Im Übrigen hält Jürgen Stark den Umgang, den Bundestag und EZB im Umgang mit dem Urteil hinsichtlich der Prüfung der Verhältnismäßigkeit gefunden haben, für eine „Farce“. Am gleichen Tag, an dem die EZB- Dokumente im Bundesfinanzministerium eingingen, wurden sie schon mit einer positiven Bewertung an den Bundestag weitergeleitet. Die Abgeordneten hatten nur wenig Zeit, sich damit zu befassen. Für Regierung und Bundestag stand also schon im Vorhinein fest: Das, was die EZB liefert, akzeptiert man.
Jürgen Stark sagte dazu: „Ich kenne die EZB sehr gut und weiß: Der Begriff der Verhältnismäßigkeit, der unserem Verfassungsgericht so wichtig ist, spielte für sie in der Vergangenheit keine Rolle. Wenn der Bundestag nun feststellt, die EZB habe bei geldpolitischen Entscheidungen systematisch die Verhältnismäßigkeit in Rechnung gestellt, ist das unglaubwürdig. Es ist ein leichtfertiges Testat.“