Koalitionsvertrag – Aufschwung oder Stillstand?
Noch während der Koalitionsverhandlungen forderten 100 deutsche Wirtschaftsverbände – darunter auch die vier großen Spitzenverbände BDA, BDI, DIHK und ZDH – die Koalitionäre von CDU/CSU und SPD mit Hinweis auf die „dramatisch zugespitzte Lage“ auf, deutlich mehr Ehrgeiz auf den wichtigen Reformfeldern zu zeigen. „Handelskonflikte eskalieren, die Inflation steigt, das Wachstum schwächt sich weiter ab – überall verdichten sich die Krisensignale“, hieß es in der gemeinsamen Erklärung: „Eines ist klar: Schulden allein lösen keine Probleme. Ohne tiefgreifende Reformen wird es keinen nachhaltigen Aufschwung geben.“
Nach Auffassung der Verbände müsste der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD in den folgenden vier Reformfeldern deutlich mehr Ambitionen zeigen, um den versprochenen Wirtschaftsaufschwung herbeizuführen:
• Die derzeitige Steuerbelastung der Unternehmen und Betriebe von rund 30 Prozent muss – zumindest schrittweise – auf das international wettbewerbsfähige Niveau von maximal 25 Prozent gesenkt werden.
• Die sozialen Sicherungssysteme müssen dringend reformiert werden: Insbesondere für lohnintensive Betriebe bedeuten steigende Beitragsätze ein Mehr an Belastung und eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit. Bei den Beschäftigten führen sie zu weniger Netto vom Brutto.
• Die Koalitionspartner müssen dem Abbau von Bürokratielasten für die Wirtschaft höchste Priorität einräumen. Berichts- und Dokumentationspflichten auch aus Brüssel müssen systematisch abgebaut und zeitraubende Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht und verkürzt werden.
• Der Standort Deutschland braucht wieder international konkurrenzfähige Energiepreise und mehr Versorgungssicherheit. Neben kurzfristigen Maßnahmen zur finanziellen Entlastung der Energieverbraucher sind massive strukturelle Reformen zwingend notwendig, um die Energiekosten dauerhaft zu senken.
Was haben CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag hierzu vereinbart:
Wettbewerbsfähige Unternehmenssteuern
Die Koalition wird für Unternehmen einen sog. „Investitions-Booster“ von 30 Prozent in Form einer degressiven Abschreibung auf Ausrüstungsinvestitionen in den Jahren 2025 bis 2027 einführen. Beginnend mit dem 01.01.2028 soll danach die Körperschaftssteuer in fünf Schritten jährlich um jeweils einen Prozentpunkt gesenkt werden. Beide Entscheidungen sollen in einem Gesetzgebungsverfahren gemeinsam beschlossen werden.
Die Senkung der Steuern für Unternehmen als das eigentliche Signal für den wirtschaftlichen Aufbruch haben Union und SPD also in die Zukunft verschoben. Die degressive Abschreibung bedeutet nur eine Steuerstundung und wird nicht ausreichen, um ausländische Investoren nach Deutschland zu holen. Im Ergebnis sind die von den Koalitionären geplanten Steuererleichterungen zu schwach, um einen schnellen Wirtschaftsaufschwung herbeizuführen.
Auch die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen müssen auf eine steuerliche Entlastung warten: „Wir werden die Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislatur senken.“ Dafür wird aber weder ein Jahr noch der Bereich der Begünstigten genannt, so dass auch davon kein Wachstumsimpuls ausgehen kann. Dagegen werden Überstunden zur tariflichen Vollarbeitszeit umgehend steuerfrei gestellt. Auch das Gehalt von weiterarbeitenden Rentnern bleibt bis monatlich 2.000 Euro steuerfrei.
Den Solidaritätszuschlag wird die neue Bundesregierung aber nicht verändern. Damit verzichtet sie auf ein wichtiges Signal für ihren Willen, Unternehmen und Haushalte von Steuern und Abgaben zu entlasten.
Reform sozialer Sicherungssysteme
Bei den sozialen Sicherungssystemen will die Koalition eine „Kommission zur Sozialstaatsreform“ einsetzen, die innerhalb des vierten Quartals 2025 ein Ergebnis präsentieren soll. Die geforderten und dringlichen Reformen sind damit zunächst einmal vertagt nach dem bekannten Motto:“ Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis.“
Davon sind nicht nur die Sozialsysteme betroffen: Im Laufe der Koalitionsverhandlungen haben Union und SPD mindestens 15 neue Kommissionen gebildet, die die Bundesregierung zu politischen Themen beraten sollen. Für die Sozialversicherungen, die sich sämtlich in prekären finanziellen Verhältnissen befinden, ist ein solches Vertagen und Auslagern von Entscheidungen jedoch besonders heikel.
Der Anteil der Sozialversicherungsabgaben an den beitragspflichtigen Arbeitsentgelten ist seit 2010 von 39,6 Prozent bis heute auf 42, 5 Prozent gestiegen. Sachverständige erwarten, dass diese soziale Last in den nächsten zehn Jahren bis auf 46 bis 53 Prozent weiter steigen wird. Dazu hatte die Union in ihrem Wahlprogramm angekündigt: „Wir wollen uns wieder auf die 40 Prozent hinbewegen.“ Im Koalitionsvertrag hätten Union und SPD sagen können, wie das geschehen soll.
Im Koalitionsvertrag ist davon jedoch nichts zu lesen. Dabei war eines der Hauptziele der Union, Deutschland als Wirtschaftsstandort wieder attraktiv zu machen. Dazu gehören nicht zuletzt auch erträgliche Arbeitskosten und attraktive Nettolöhne. Eine Abgabenlast von 47,9 Prozent in Form von Steuern und Sozialbeiträgen genügt diesen Voraussetzungen nicht.
Für die Gesundheits- und Pflegeversicherung hat die dafür zuständige Arbeitsgruppe von Union und SPD vorgeschlagen, die aufgelaufenen Defizite mit Zahlungen aus der Staatskasse auszugleichen. Allein für die gesetzliche Krankenversicherung hätte das jedes Jahr 18 Milliarden Euro gekostet, zusätzlich zum bestehenden Zuschuss von 14,5 Milliarden. Weil das den Finanzpolitikern zu hoch erschien, hat man sich auf die Empfehlung geeinigt, den Fonds für den Umbau der Krankenhauslandschaft nicht aus Kassenbeiträgen, sondern nach dem Prinzip „Verschiebebahnhof“ aus dem „Sondervermögen Infrastruktur“ zu befüllen.
Laut Koalitionsvertrag soll die Beitragsstabilität mit steigenden Einnahmen infolge höherer Beschäftigung und mit sinkenden Ausgaben in der Gesundheitspolitik gewährleistet werden. Was das konkret bedeutet, wird der Sozialstaatskommission überlassen: „Für diese Aufgabe werden wir eine Kommission unter Beteiligung von … Experten und Sozialpartnern einrichten.“ Diese soll ihre Empfehlungen bis zum Jahr 2027 unterbreiten.
In der Pflegeversicherung ist die Lage noch prekärer. Trotz erheblicher Beitragserhöhungen arbeiten die Versicherungen defizitär. Eine erste Kasse musste bereits vor dem Kollaps gerettet werden. Auch hier will die Koalition eine Arbeitsgruppe einrichten, die ihre Arbeitsergebnisse allerdings bis zum Jahresende vorlegen soll.
Zu einer Politik der Ausgabenbegrenzung haben sich Union und SPD auch bei der Rentenversicherung nicht durchringen können. Vielmehr wollen die Koalitionäre die jährlichen Rentenerhöhungen sogar zusätzlich für alle 21 Millionen Rentner verstärken. Dafür wird der sog. Demographie-Faktor, der dem Lastenausgleich zwischen den Generationen dienen soll, für weitere sechs Jahre ausgesetzt. Politisch wird das mit der Formel „Rentenniveau von 48 Prozent“ verbrämt.
Nicht zu unterschätzen sind auch die künftigen Mehrausgaben, die durch die von der CSU durchgesetzte Mütterrente für Frauen mit Kindern entstehen, die vor 1992 geboren wurden. Diese Erweiterung steigert die jährlichen Rentenausgaben um fast fünf Milliarden Euro. Laut Koalitionsvertrag sollen die neuen Rentenversprechen nicht über höhere Rentenbeiträge, sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Dadurch werden aber diese Zahlungen, die schon jetzt 120 Milliarden Euro betragen, auf 150 Milliarden Euro im Jahr steigen.
Um dieses Geld aufzubringen, könnte sich die neue Bundesregierung schon bald gezwungen sehnen, die für Infrastruktur, Bildung und Forschung vorgesehenen Mittel zu kürzen und auf die Sozialversicherungen zu verlagern. Die Koalitionäre halten dem eine „vereinbarte Sicherheitsklausel“ entgegen, wonach sie kurz vor der Bundestagswahl 2029 „evaluieren“ wollen, ob die Rentenpolitik funktioniert oder ob „Maßnahmen“ zu ergreifen sind. Kurz vor dem Wahltag aber Einsparungen bei der Rente zu beschließen, wäre für jeden Politiker das Ende seiner Karriere.
Abbau der Bürokratielasten
Dem Abbau von Bürokratielasten für die Wirtschaft wollen die Koalitionsparteien höchste Priorität einräumen, wie es die Wirtschaftsverbände auch fordern. Dazu gehören nach dem Koalitionsvertrag sowohl die Modernisierung der staatlichen Organisation als auch der Rückbau bürokratischer Lasten für die Wirtschaft.
Die Koalitionäre wollen für Staat und Verwaltung ein neues Leitbild erarbeiten: Die Bundesverwaltung soll vernetzt, effizient und leistungsfähig sowie niederschwellig und nutzerfreundlich für alle erreichbar sein. Im Mittelpunkt stehen dabei die Menschen und Unternehmen, denen Regierung und Verwaltung als Partner und Ermöglicher begegnen wollen.
Behördenübergreifende Aufgaben, Institutionen und Behörden werden auf den Prüfstand gestellt, versprechen die Koalitionäre. Der Personalbestand in der Ministerialverwaltung und in nachgeordneten Behörden soll bis 2029 um mindestens acht Prozent gekürzt werden. Der ausgeuferte Bestand von sog. Beauftragten wird um 50 Prozent reduziert. Auch die Zahl von mittlerweile 950 Bundesbehörden soll durch Zusammenlegung oder Abbau vermindert werden.
Für diese Aufgaben wird das neue Ministerium „Digitalisierung und Staatsmodernisierung“ zuständig sein. Damit verbinden die Koalitionäre die Erwartung, dass auch mit weniger Personal gute Arbeit gemacht wird. Für dieses Ziel sollen die Prozesse digitalisiert und standardisierte Aufgaben behördenübergreifend von Service-Einheiten erledigt werden.
Neben der Staatsmodernisierung will die neue Regierung bis Ende des Jahres 2025 im Rahmen eines „Sofortprogramms für den Bürokratierückbau“ vor allem kleine und mittlere Unternehmen von zahlreichen bürokratischen Lasten und Pflichten befreien, zum Beispiel die Verpflichtung zur Bestellung von Betriebsbeauftragten, den Schulungs- und Weiterbildungsaufwand oder Berichts- und Dokumentationspflichten.
Darüber hinaus soll das nationale Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) abgeschafft werden und durch ein vollzugfreundliches Gesetz über die internationale Unternehmensverantwortung der EU ersetzt werden. Zudem sollen das Energieeffizienzgesetz und das Energiedienstleistungsgesetz novelliert und vereinfacht werden. Außerdem werden die Unternehmen von zahlreichen Statistikpflichten befreit.
Mit diesen Maßnahmen wollen die Koalitionäre die Bürokratiekosten um 16 Milliarden Euro senken. Außerdem soll der Erfüllungsaufwand, der den Unternehmen bei der Durchführung von Gesetzen entsteht, um mindestens zehn Milliarden Euro reduziert werden. Zusätzlich wird die sog. Bürokratiebremse gestärkt: Zukünftig gilt die „One in, two out“- Regel. Sie bedeutet, dass für jede neue belastende Norm zwei alte Normen mit insgesamt gleicher Belastung verschwinden müssen.
Energiepreise und Versorgungssicherheit
Die acht Seiten des Koalitionsvertrages, die sich mit der Klima- und Energiepolitik beschäftigen, folgen dem seit 25 Jahren bekannten politischen Grundmuster, ohne dass man sich mit den grundlegenden Problemen beschäftigt.
Die Koalition verfolgt weiterhin das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2045 mit dem Ansatz, Klimaschutz und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zusammenzubringen. Offen bleibt aber, wie das möglich sein soll: Der Erfolg des Klimaschutzes misst sich an der Reduktion von CO2, die Wettbewerbsfähigkeit demgegenüber an der Produktivität einer Volkswirtschaft. Im Rahmen begrenzter finanzieller Mittel stehen Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit deshalb in einem Konkurrenzverhältnis: Der Aufwand für den Klimaschutz reduziert zwangsläufig die Möglichkeit, in die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu investieren.
Dieser Widerspruch lässt sich weder mit dem im Koalitionspapier vorgeschlagenen „Carbon-Leakage-Schutz“ noch mit dem europäischen Emissionshandel lösen. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Koalitionäre eine Neubewertung der gesamten Energiewende planen: Ein „Monitoring“ soll bis zur Sommerpause klären, wie viel Strom in Zukunft wirklich gebraucht wird und wie es um den Ausbau der Erneuerbaren und der Netze steht. Zumindest dem Papier nach haben CDU/CSU und SPD inzwischen begriffen, dass im bisherigen Umbau zentrale Aspekte des energiewirtschaftlichen Gleichgewichts zu kurz gekommen sind.
Hinsichtlich der Energiepreise wollen die Koalitionäre Unternehmen und Verbraucher dauerhaft um mindestens fünf Cent pro kWh entlasten. Dafür sollen als Sofortmaßnahme die Stromsteuer auf das europäische Maß gesenkt und Umlagen und Netzentgelte reduziert werden. Im Übrigen sollen die Energiepreise durch ein größeres Energieangebot stabilisiert werden. Dazu sollen künftig auch Reservekraftwerke, die eigentlich zur Vermeidung von Versorgungsengpässen gedacht sind, zum Einsatz kommen.
An dem Kohle- und Atomausstieg will die Koalition jedoch festhalten. Noch im Arbeitsgruppenpapier hatten CDU/CSU ein Rückbaumoratorium für die letzten Kernkraft-Reaktoren gefordert, diese Option hat aber die SPD nicht zugelassen. Laut Friedrich Merz (CDU) habe man das „zu akzeptieren gehabt“.
Fazit:
Die 100 Wirtschaftsverbände haben erreicht, dass die derzeitige Steuerbelastung der Unternehmen und Betriebe von rund 30 Prozent – zumindest schrittweise – auf das international wettbewerbsfähige Niveau von maximal 25 Prozent gesenkt wird. Zunächst muss die Wirtschaft aber für drei Jahre mit Sonderabschreibungen vorliebnehmen, bis dann endlich die Steuerbelastung jährlich mit einem Prozent sinken wird.
Die Reform der sozialen Sicherungssysteme haben die Koalitionäre aufgeschoben, bis die Sachverständigen gesprochen haben. Dabei sind die Probleme und mögliche Lösungen längst bekannt. Den Koalitionären fehlt nur der Mut, die notwendigen Reformen umzusetzen. Der wirtschaftliche Aufbruch ist damit vertagt, wenn er denn überhaupt noch kommt.
Demgegenüber sieht es bei dem Abbau bürokratischer Lasten deutlich besser aus: Die Koalitionäre wollen den Staat modernisieren und verschlanken. Außerdem soll die Wirtschaft von überflüssiger Bürokratie entlastet werden. Aber auch hier kommt es auf den Mut an, Strukturen zu verändern und selbst geschaffene Regeln wieder aufzuheben. Letztendlich entscheidet das Ergebnis, ob durch den Bürokratieabbau ein wirtschaftlicher Neuanfang stattfindet.
Das gilt insbesondere auch für die Forderung der Wirtschaftsverbände nach wettbewerbsfähigen Energiepreisen und nach Versorgungssicherheit: Die deutsche Politik hat vor Jahren entschieden, dass die deutsche Energieversorgung von der Kernenergie und den fossilen Energien (zur Rettung des Klimas?) auf regenerative Energien, vor allem Wind und Sonne, umgestellt werden soll. Für diesen gewaltigen Transformationsprozess hat es jedoch weder einen Gesamtplan noch eine Kostenschätzung gegeben.
Das Ergebnis ist eine grüne Energiewende-Planwirtschaft, die nach den Erfahrungen mit der Planwirtschaft in der untergegangenen DDR nur scheitern kann. Die Koalitionäre halten aber unbeirrt daran fest, die sich in einem Übergangsprozess befindliche Energiewirtschaft planwirtschaftlich steuern zu können, so wie es in Bertold Brechts Theaterstück „Die Dreigroschenoper“ heißt: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach´ noch `nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht!“
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